Verschwörungsideologien entzaubern, Solidarität ausüben
Autor_innen: Simone Rafael für belltower.news
Die „Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus“ sind eine Institution seit 2003: Deutschlandweit beschäftigen sich Initiativen, Vereine und Projekte rund um den 9. November mit dem Thema Antisemitismus in Deutschland.
Die Amadeu Antonio Stiftung koordiniert und bewirbt die Aktionswochen, seit 2016 in Kooperation mit dem Anne Frank Zentrum. Das soll auch 2020 nicht anders sein – auch wenn in diesem ungewöhnlichen Jahr 2020 die meisten Veranstaltungen digital stattfinden. Wir haben Nikolas Lelle vom Team der „Aktionswochen gegen Antisemitismus“ der Amadeu Antonio Stiftung gefragt, was uns in diesem Jahr erwartet.
Bisher waren die Aktionswochen gegen Antisemitismus immer rund um den 9. November gelegen. Dieses Jahr ist aber alles anders, oder?
Allerdings! Durch die Coronavirus-Pandemie haben wir ja schon im Frühjahr das Gefühl gehabt, wir müssen Debatten führen, weil mit den Verschwörungsmythen zu Corona plötzlich so viel Antisemitismus ans Licht kam. Deshalb haben wir bereits am 15. Mai einen digitalen Aktionstag veranstaltet und seitdem über 60 Veranstaltungen online durchgeführt. Ein Übersicht über alles, was man noch nachgucken kann, und alles, was kommt gibt es auf www.aktionswochen-gegen-antisemitismus.de.
Aber eigentlich geht es jetzt erst richtig los, oder?
Ja, jetzt lautet unser Motto „Aktionswochen gegen Antisemitismus – 9. Oktober bis 9. November“. Am 9. Oktober ist der Jahrestag des antisemitisch motivierten Attentats von Halle. Der 9. November ist ja der Jahrestag der Novemberpogrome. Genauso bewegt sich das bundesweit organisierte Programm zwischen historischen und modernen Formen des Antisemitismus. Es sind Veranstalter von Schleswig-Holstein bis Bayern, von NRW bis Sachsen dabei – auch wenn 2020 rund 95 % aller Veranstaltungen online stattfinden. Aber dann können umso mehr Menschen teilnehmen! Offline gibt es an verschiedenen Standorten Projektionen antisemitischer Vorfälle in Deutschland- in Kiel, Berlin, Leverkusen, Rheinberg, Vogtland und Köln.
Gibt es Schwerpunkte im Programm 2020?
Schwerpunkt ist der Umgang und die Beschäftigung mit Verschwörungsmythen und ihren antisemitischen Anteilen – das hat die Pandemie mit sich gebracht, dass das jetzt ein breites Feld ist. Der zweite Schwerpunkt ist das Attentat von Halle und was wir daraus für Konsequenzen ziehen als Gesellschaft. Daran schließt unser dritter Schwerpunkt an: Solidarität mit Jüdinnen und Juden in Deutschland – was heißt das?
Worauf freust Du Dich besonders?
Ich bin jetzt viel unterwegs. Ich werde etwa in Halle dabei sein, wenn die jüdische Studierendenunion JSUD die Spenden übergibt, die sie für den um seine Existenz kämpfenden Besitzer des „Kiezdöners“ gesammelt hat, in dessen Restaurant der Attentäter von Halle Kevin S. erschossen hat. Am Freitag unterstützen wir eine kleine Kundgebung vor dem Restaurant des Berliner Verschwörungskochs Attila Hildmann. Am 13. Oktober gibt es eine neue Runde unserer Gesprächsreihe „Das Jüdische Quartett“ zum Thema „Was ist Jüdischkeit?“ (13.10., 17 Uhr). Spannend wird auch das Online-Seminar: „Corona und die Rolle von antisemitischen Verschwörungsideologien“, veranstaltet vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) (21.10., 19 Uhr). Mein Team organisiert am 05. November die Online-Diskussion „Terror gegen Juden heute. Bestandsaufnahme und Handlungsstrategien“ mit dem Buchautor Dr. Ronen Steinke und Anetta Kahane, der Vorsitzenden der Amadeu Antonio Stiftung (05.11., 18 Uhr). Das gesamte Programm gibt es hier. Außerdem freue ich mich, dass im November unsere Argumentationshilfe-Website nichts-gegen-juden.de generalüberholt wieder online geht und wir das „Lagebild Antisemitismus in Deutschland“ veröffentlichen werden.
Was ist Dein Fazit bisher aus den Aktivitäten 2020: Was kann jede*r von uns gegen Antisemitismus tun?
Besonders stark nachgefragt wird diese Jahr alles, was mit Umgang mit Verschwörungsmythen zu tun hat. Wie äußert sich der Antisemitismus in den Verschwörungserzählungen, die rund um die Coronavirus-Pandemie plötzlich so populär wurden? Und vor allem, was können wir dagegen tun?
Wissen wir als Gesellschaft dazu denn eigentlich genug?
Wir müssen viel mehr über strukturellen Antisemitismus reden, wie er in Verschwörungsmythen vorkommt – aber nicht nur reden, sondern auch forschen! Ich bin, ehrlich gesagt, total verblüfft, dass diese Themen – außer in dem langjährigen Projekt „Debunk“ der Amadeu Antonio Stiftung – in den letzten Jahren weder im zivilgesellschaftlichen Bereich noch in der wissenschaftlichen Forschung viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Das Themenfeld haben wir offenbar alle massiv unterschätzt. Es gibt also leider noch genug zu debattieren zum strukturellen Antisemitismus in Deutschland.
Hier geht es zum Programm der Aktionswochen:
Auch immer ein Besuch wert: Der Entschwörungsgenerator!