VBRG | Offener Brief an Bundesjustizministerin Lambrecht: Rassismus und Antisemitismus vernichten wirtschaftliche Existenzen. Wir fordern die Ausweitung von Entschädigungsleistungen für Betroffene.
Autor_innen: VBRG
12.05.2020
An
Frau Ministerin der Justiz und für Verbraucherschutz
Christine Lambrecht
10117 Berlin
Rassismus und Antisemitismus töten – und vernichten auch wirtschaftliche Existenzen
Wir fordern daher die dringende Ausweitung der Entschädigungsleistungen des Bundesamtes für Justiz für die Angegriffenen
Sehr geehrte Frau Ministerin,
täglich wurden im Jahr 2019 mindestens fünf Menschen Opfer politisch rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierter Gewalt. Mörderischer Rassismus, Antisemitismus und Rechtsterrorismus haben in den vergangenen zwölf Monaten bei Anschlägen in Istha bei Kassel, in Halle (Saale) und Hanau dreizehn Menschenleben gefordert. Rassismus ist das zentrale Motiv bei Zweidrittel aller PMK Rechts Gewalttaten. Zu diesem Ergebnis kommen sowohl die Statistiken des Bundeskriminalamtes als auch die Angriffsstatistiken der unabhängigen, im Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) zusammengeschlossenen Opferberatungsstellen.
Die Täter zielen dabei auf das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen – und auch auf deren wirtschaftliche Existenz: Sei es bei der Wahl des „Kiez Döner“ in Halle (Saale) als zweites Anschlagsziel des antisemitischen und rassistischen Anschlags am 9. Oktober 2019 oder bei der Wahl eines bekannten Kiosk, einer Bar und einer Shisha-Bar als Anschlagsziele in Hanau am 19. Februar 2020. Die Täter markieren ihre Ziele dabei offensiv mit Hakenkreuzen, wie etwa bei einem Brandanschlag auf das Lebensmittelgeschäft „Al Salam“ am 8. März 2020 in Burg (Sachsen-Anhalt).
Arbeitsorte werden zu Orten des Schreckens und der Trauer
Am Beispiel des Kiez Döner in Halle (Saale) wird auch deutlich, dass ein erfolgreicher Weiterbetrieb für die überlebenden Angestellten des rechtsterroristischen Anschlags – trotz Solidaritätsbekundungen aus Zivilgesellschaft und Politik – nicht möglich ist. Auch in Hanau sind die Ladeninhaber*innen und ihre Angestellten damit konfrontiert, dass ihr ehemaliger Arbeitsplatz zu einem Ort des Schreckens und der Trauer geworden ist. Der Anschlag hat auch ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage vernichtet. Die schwierigen Bedingungen für Gewerbetreibende unter der Pandemie kommen aktuell erschwerend hinzu. Aus den Erfahrungen der Angehörigen der NSU-Mordserie und vieler weiterer Betroffener, deren Gewerbe, Imbisse und Restaurants – wie etwa in Chemnitz im Herbst 2018 – zur Zielscheibe rassistischer und antisemitischer Gewalt und Brandanschläge geworden sind, wissen wir: Rassistisch und antisemitisch motivierte Gewalt will auch die wirtschaftliche Existenz der Angegriffenen und ihrer Familien vernichten und sie aus den Unternehmens- und Gewerbestrukturen vor Ort verdrängen.
Die Angegriffenen stehen vor den Trümmern ihrer Existenz
Die Angegriffenen stehen nach den Anschlägen buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz – und werden mit den Folgen allzu oft alleine gelassen. Wir wissen: Das Überleben und Verarbeiten von schwersten Gewalttaten ist auch davon abhängig, ob es für die Betroffenen eine Zukunftsperspektive gibt.
Die Härteleistungen des Bundesamtes für Justiz für Opfer extremistischer Übergriffe und terroristischer Straftaten sollen nach dem Willen des Gesetzgebers „einen Akt der Solidarität der Gesellschaft mit dem Opfer darstellen und Signalwirkung haben“.[1] Die Billigkeitsentschädigung wird bisher jedoch nicht für zerstörtes Inventar, Renovierungskosten, Sicherungsmaßnahmen oder existenzbedrohende Einnahmeverluste in Folge von rassistisch oder antisemitisch motivierten Brandanschlägen, schwersten Sachbeschädigungen und rechtsterroristischen Attentaten gewährt.
Wir bitten Sie daher dringend um eine Ausweitung der Entschädigungsleistungen des Bundesamtes für Justiz auf Sachschäden und wirtschaftliche Verluste und entsprechende Soforthilfen für die Angegriffenen.
Mit Dank für Ihr Engagement und freundlichen Grüßen,
Der Vorstand und die 15 Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im VBRG e.V.
[1] „Richtlinie zur Zahlung von Härteleistungen für Opfer extremistischer Übergriffe aus dem Bundeshaushalt“, Bundesjustizamt, 21. Dezember 2006.
Download: Offener Brief des VBRG an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht als PDF
An Unterstützung interessierte Einzelpersonen und Organisationen wenden sich bitte unter Angabe des Namens, der Organisation oder des Berufs und des Wohnorts an info@verband-brg.de.
Erstunterzeichner*innen des Offenen Briefs (Stand: 11.05.2020)
Vorstand des Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit Brandenburg
Sven Adam, Rechtsanwalt, Göttingen
René Bahns, Rechtsanwalt, Frankfurt am Main
Canan Bayram, MdB, Bd. 90/DIE GRÜNEN, Berlin
Seda Başay-Yıldız, Rechtsanwältin, Frankfurt am Main
Markus N. Beeko, Generalsekretär, Amnesty International Deutschland e.V.
Norbert Bischoff, Vorsitzender „Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V“ , Minister a.D., Halle (Saale)
Thomas Bliwier, Rechtsanwalt, Hamburg
Chaja Charlotte Boebel, IG Metall, Gewerkschaftssekretärin, Berlin
Günter Burkhardt, Geschäftsführer Pro Asyl e.V., Frankfurt/Main
Bundesverband Mobile Beratung e.V.
Ulrich Chaussy, Journalist und Autor, München
Christina Clemm, Rechtsanwältin, Berlin
Dr. des. Harpreet Kaur Cholia , Vorstandsvorsitzende Hessischer Flüchtlingsrat, Frankfurt am Main
Dr. Mehmet Daimagüler, Rechtsanwalt, Bonn
Aminata Touré, MdL, Bd. 90/DIE GRÜNEN Schleswig-Holstein
Ayşe Demir, Vorstandssprecherin des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg
Doris Dierbach, Rechtsanwältin, Hamburg
Esther Dischereit, Schriftstellerin, Berlin
Ilker Duyan, Naturwissenschaftler, Mitglied im Türkischen Bund Berlin-Brandenburg
Michael Ebenau, IG Metall, Bezirksleitung Mitte
Berthold Fresenius, Rechtsanwalt, Frankfurt am Main
Volker Gerloff, Rechtsanwalt, Berlin
Anna Gilsbach, Rechtsanwältin , Berlin
Madeleine Henfling, MdL, Bd. 90 / DIE GRÜNEN, Thüringen, Ilmenau
Prof. Dr. Gudrun Hentges, Universität zu Köln, Köln
Carsten Ilius, Rechtsanwalt, Berlin
Prof. Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenen des NSU-Terrors
Dr. Kirsten Kappert-Gonther, MdB, Bd. 90/ DIE GRÜNEN, Bremen
Katja Kipping, Vorsitzende DIE LINKE
Corinna Kirchhoff, Schauspielerin, Berlin
Katrin Inga Kirstein, Rechtsanwältin, Hamburg
Katharina König-Preuss, MdL, DIE LINKE, Thüringen, Jena
Diana Lehmann, MdL SPD, Thüringen, Erfurt
Edith Lunnebach, Rechtsanwältin, Köln
Dr. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt am Main
Mekonnen Mesghena, Politik- und Organisationsberater, Berlin
Prof. Dr. Rainer O. Neugebauer, Bürgerbündnis für ein gewaltfreies Halberstadt
Netzwerk Tolerantes Sachsen
Tien Duc Nguyen, Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt
(LAMSA) e.V., Magdeburg
Onur O. Özata, Rechtsanwalt, Berlin
Prof. Dr. Benjamin Ortmeyer, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Sharon Dodua Otoo, Autorin
Cem Özdemir, MdB /Bd. 90/Die Grünen, Wahlkreis Stuttgart
Stephan Kuhn, Rechtsanwalt, Frankfurt am Main
Anja Piel, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB
Dr. Matthias Quent, Direktor des Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), Jena
Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle (Saale) K.D.Ö.R.
Eberhard Reinecke, Rechtsanwalt, Köln
Timo Reinfrank, Geschäftsführer Amadeu Antonio Stiftung
Martina Renner, MdB, DIE LINKE, Wahlkreis Erfurt
Florian Ritter, MdL, SPD, Bayern
Susann Rüthrich, MdB, SPD, Wahlkreis Meißen
Prof. Dr. Miriam Rürup, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ), Hamburg
Sebastian Scharmer, Rechtsanwalt, Berlin
Markus Schlimbach, DGB Vorsitzender, DGB Bezirk Sachsen
Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer Paritätischer Gesamtverband
Gökay Sofuoglu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland e.V.
Dr. Christian Staffa, Studienleiter für Demokratische Kultur und Kirche, Evangelische Akademie zu Berlin und Beauftragter der Ev. Kirche in Deutschland für den Kampf gegen Antisemitismus
Benjamin Steinitz, Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus
Sebastian Striegel, MdL, Bd. 90/DIE GRÜNEN, Merseburg
Niklas Schrader, MdA, DIE LINKE, Berlin
Antonia von der Behrens, Rechtsanwältin, Berlin
Sandro Witt, Gewerkschafter und Vorsitzender Mobit e.V., Erfurt
Ünal Zeran, Rechtsanwalt, Hamburg
Weitere Unterzeichner*innen des Offenen Briefs (Stand 12.05.2020)
Katharina Schulze, MdL, Fraktionsvorsitzende Bd.90/ DIE GRÜNEN im Bayerischen Landtag
Ferda Ataman, Journalistin, Berlin
Franziska Becker, Psychologin, Offenbach am Main
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