Support-Statistik: Rechtsmotivierte, rassistische und antisemitische Gewalt in Sachsen 2023
Autor_innen: RAA Sachsen e.V.
2023: Opferberatungsstellen in Sachsen zählen 248 rechtsmotivierte Angriffe, von denen mindestens 380 Menschen direkt betroffen waren – ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr. Die gewalttätige rechte Raumnahme in sächsischen Schwerpunktregionen setzte sich nicht nur fort, sondern weitete sich aus. Mit einem verstärkten Auftreten neonazistischer Organisationen und einem Zuwachs an jungen Neonazis geht auch eine Zunahme rechtsmotivierter Gewalttaten einher.
Im Jahr 2023 verzeichneten Opferberatungsstellen in Sachsen 248 rechtsmotivierte Angriffe, von denen mindestens 380 Personen direkt betroffen waren. Dieser Anstieg um 21% im Vergleich zum Vorjahr setzt den Trend fort, der bereits 2022 (205) mit einem erhöhten Niveau rechtsmotivierter Gewalt sichtbar wurde. Nach einem Rückgang während der Pandemiejahre nehmen Angriffe aus rechten Motiven seither wieder zu. Im Jahr 2018 lag die Zahl mit 317 zuletzt besonders hoch, was in den rassistischen Ausschreitungen im Sommer des Jahres in Chemnitz begründet liegt. Davor führte eine aufgeladene, ablehnende bis feindselige Stimmung gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten in den Jahren 2015 (477) und 2016 (437) zu einem sprunghaften Anstieg rassistischer Angriffe.
Gewalttätige rechte Raumnahme in sächsischen Schwerpunktregionen setzt sich fort
Bereits im letzten Jahr beschrieben wir aufgrund der zu beobachtenden Entwicklungen vor allem in den sächsischen Schwerpunktregionen eine zunehmend gewalttätige (extrem) rechte Raumnahme. Diese war 2022 besonders in den Landkreisen Nordsachsen, Zwickau und Bautzen wahrnehmbar, wo sich die hohen Angriffszahlen zum Teil auf kameradschaftsähnliche Gruppierungen zurückführen ließen. Diese Entwicklung setzte sich im Jahr 2023 offenbar fort und breitete sich weiter aus. Die Schwerpunkregionen sind wieder die Landkreise Zwickau und Bautzen, hinzu kommt der Landkreis Görlitz, der Landkreis Leipzig löste Nordsachsen wieder ab.
Sichtbar wurde 2023 eine Reorganisierung neonazistischer Strukturen nach Jahren der Coronapandemie und des Zulaufs für Querdenker, Neue Rechte oder auch völkische Zusammenhänge. Junge Kameradschaften, Kleinstparteien wie der III. Weg oder die Heimat, bzw. deren Jugendorganisationen rekrutieren Jugendliche, gründen neue Stützpunkte und sind mit Aktionen verstärkt sichtbar. Das bleibt nicht ohne Folgen. Sachsenweit ist zu erkennen, dass Täter*innen wie Betroffene jünger werden. Diese Entwicklung rührt wahrscheinlich auch aus der Zeit der Coronapandemie, welche als Brandbeschleuniger für die Radikalisierung junger Menschen in der extrem rechten Szene wirkte. Mit einem verstärkten Auftreten neonazistischer Organisationen und einem Zuwachs an jungen und gewaltbereiten Neonazis geht auch eine Zunahme rechtsmotivierter Gewalttaten einher. Sowohl rassistisch motivierte Angriffe als auch Angriffe gegen Nichtrechte und Alternative haben deutlich zugenommen. Vor allem letztere Betroffenengruppe gerät, wie auch politische Gegner*innen, in den Fokus organisierter junger Neonazis, die damit ihre Dominanz in einem Ort oder Viertel geltend machen. Andere vor allem als eher links geltende Jugendkulturen, wie Punks oder Skater*innen, werden nicht geduldet. Das zeigt sich durch Präsenz auf der Straße, durch Aufkleber oder Sprühereien, sowie durch Anfeindungen, Beleidigungen und Sachbeschädigungen. In die Statistik Eingang finden nur massive Sachbeschädigungen, Bedrohungen, Nötigungen und Körperverletzungen – bei diesen Straftatbeständen gab es insgesamt Zuwächse, besonders stark jedoch bei den Bedrohungen (siehe unter Staftatbestände). Und während die Betroffenengruppen der politischen Gegner*innen und Nichtrechten und Alternativen zusammen ca. ¼ aller Angriffe 2023 ausmachen, beläuft sich deren Anteil in den Schwerpunktlandkreisen bei ca. 1/3.
Landkreise Görlitz und Bautzen
2023 stiegen die Angriffszahlen im Landkreis Görlitz massiv und auch im Landkreis Bautzen noch einmal leicht auf jeweils 17 Angriffe. Rassismus ist das häufigste Tatmotiv (19), zehn Angriffe richteten sich gegen politische Gegner*innen oder Nichtrechte und Alternative. Diese Zahlen und die Wahrnehmung einiger Betroffener und Kooperationspartner*innen verweisen auf Veränderungen: rechte Jugendgruppen treten selbstsicher und aggressiv nicht nur im Görlitzer oder Bautzner Stadtbild auf. Shirts mit "White Race", Sticker des III. Weges, extrem rechte Graffities und Parolen gehören zum Stadtbild. Starke Aktivitäten vor allem der Strukturen aus dem Bautzner Raum bilden den Hintergrund: die Gruppe „Balaclava Graphics“, das Musiklabel „Neuer deutscher Standard“ und der neu gegründete Stützpunkt Oberland des III. Weg. Besonders präsent ist der „Jugendblock“ in Bautzen, für den die Gruppe „Balaclava Graphics“ mobilisiert. Diese nehmen regelmäßig an den Montagsprotesten in Bautzen teil, inszenieren sich auf Instagram mit Pyrotechnik, verteilen Sticker mit der Aufschrift „Nazikiez“ und sprechen damit besonders junge Personen an.
Landkreis Zwickau
Die erfassten Gewalttaten im Landkreis Zwickau (21) hatten in Zwickau und den umliegenden Gemeinden wie Wilkau-Haßlau ihren örtlichen Schwerpunkt. Einige Angriffe gingen von rechten Jugendgruppen aus und richteten sich vor allem gegen Jugendliche, die ihre rechte Ideologie nicht teilen oder sich gegen diese positionieren. Im Raum Zwickau wirbt die extrem rechte Kleinstpartei der III. Weg um Jugendliche. Sie bieten Treffpunkte, Nachhilfe, Kampfsporttraining und ihre eigene Jugendorganisation, die „Nationalrevolutionäre Jugend“. So besteht die Gefahr, dass von rechten Jugendlichen dominierte Orte entstehen, die Anziehungspunkt sind für weiteren Nachwuchs und gleichzeitig Angstraum für alle, die hier Gefahr laufen diskriminiert, angefeindet, bedroht oder angegriffen zu werden.
Landkreis Leipzig
Im Landkreis Leipzig (17) sind die Angriffszahlen im Vergleich zum Jahr 2022 (10) wieder deutlich angestiegen. Mit Blick auf die Jahre zuvor scheint es jedoch nur ein Angleichen auf das Niveau vor der Coronapandemie. Zusammen mit Nordsachsen war der Landkreis Leipzig in den vergangenen Jahren immer eine Schwerpunktregion. Angegriffen wurden Menschen, die von Rassismus betroffen sind (10), Nichtrechte (5) sowie politische Gegner*innen (1). Rechte Gewalt gehört im Landkreis auch an Orten zum Alltag, an denen keine starke, organisierte Rechte auftritt, jedoch lohnt sich der Blick auf die Regionen, in denen extrem rechte Akteure aktiv sind. So gab es auch im Jahr 2023 wieder Angriffe in Wurzen, darunter viele Sachbeschädigungen am Mit-Mach-Café des Netzwerks für Demokratische Kultur e.V. (NDK). Hier treten vor allem die Jungen Nationalisten (JN), Jugendorganisation der Heimat (früher NPD) auf: Vermehrt durch Graffitis und Sticker, im Februar 2023 mit einem Aufmarsch anlässlich der Bombardierung 1945 in Dresden mit Sarg, Fackeln und schwarz-rot-goldene Masken. In Brandis jedoch schnitten zwei Schüler in der Hofpause einem Mitschüler ein Hakenkreuz und das Logo der JN in die Haare und teilten Fotos der Aktion in einem sozialen Netzwerk. Mit Benjamin Brinsa hat ein bekannter Akteur der extrem Rechten in Wurzen zwar Ende 2023 sein Stadtratsmandat niedergelegt, sein Einfluss vor Ort und im Kampfsport- und Hooliganumfeld besteht jedoch fort.
Stadt Leipzig
Mit 70 Angriffen in der Stadt Leipzig gab es im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg um 40%. Mit 30 Fällen ist Rassismus dabei immer noch das häufigste Tatmotiv. Doch auch die queerfeindlichen Angriffe sind im Jahr 2023 auf 11 (2022: 8, 2021: 3) gestiegen. In der ersten Jahreshälfte 2023 gab es im Zusammenhang mit rechten Montagsprotesten Angriffe auf Nichrechte oder politische Gegner*innen, die jedoch mit dem Versammlungsgeschehen abnahmen. Ein Schwerpunkt ist im Stadtzentrum und im Nordosten der Stadt zu erkennen. In den Stadtteilen Mockau, Eutrizsch und Paunsdorf fallen neben Propagandaaktionen, mit dem III. Weg und dessen Jugendorganisation auch gefestigte extrem rechte Strukturen auf. Chronik LE schrieb dazu: „Seit Frühjahr 2023 haben die Aktivitäten des III. Wegs in der Region Leipzig stark zugenommen. Die in der Stadt bis dahin kaum in Erscheinung getretene neonazistische Partei versucht vorwiegend in östlichen Stadtteilen sowie der nordsächsischen Stadt Taucha Fuß zu fassen“.
Stadt Chemnitz
Im Jahr 2023 gab es einen Anstieg um 64% auf 23 (2022: 14) rechte Gewalttaten. Der ist vor allem auf rassistische Taten zurückzuführen, die auch in Chemnitz den Großteil der Fallzahlen ausmachen (12). Zusätzlich zeigte sich auch hier das Phänomen junger, rechter, organisierter Täter, welche in der Stadt politische Gegner*innen und Nichtrechte oder alternative Jugendliche (5) angriffen. Vor allem in den Sommermonaten kam es zu Angriffen auf Jugendliche oder junge Erwachsene, die in den Augen der Täter links oder queer aussahen.
Die Zahlen im Überblick
Räumliche Verteilung
Die höchsten Angriffszahlen sachsenweit weisen wie seit Jahren die Großstädte Leipzig und Dresden auf. Jedoch sind sie in Leipzig[1] im Vergleich zum Vorjahr um 40% gestiegen (70, 2022: 50) und in Dresden um 34% gesunken (42, 2022: 64). Bewegten sich die Angriffszahlen in der Stadt Chemnitz die letzten Jahre eher auf dem Niveau der Spitzen-Landkreise, ist hier im Jahr 2023 ein Anstieg um 64% auf 23 (2022: 14) zu verzeichnen. Auch in den Landkreisen nahmen die Angriffe zu. Besorgniserregend ist die Steigerung um 183% im Landkreis Görlitz von 6 Angriffen im Jahr 2022 auf 17 im Jahr 2023. In den Landkreisen um Leipzig ist eine Verlagerung des Schwerpunktes von Nordsachsen (2023: 11, 2022: 14) in den Landkreis Leipzig (2023: 17, 2022: 10) zu beobachten, wo eine Steigerung um 70% zu verzeichnen ist. Deutliche Anstiege gibt es ebenso im Landkreis Erzgebirge (2023: 9, 2022: 1) und im Landkreis Sächsische Schweiz – Osterzgebirge (2023: 8, 2022: 2). Erneut stiegen die Angriffszahlen im Landkreis Zwickau, diesmal um 62% von 13 Angriffen in 2022 auf 21 in 2023 und im Landkreis Bautzen, diesmal um 31% von 13 Angriffen in 2022 auf 17 in 2023. In beiden Landkreisen ist diese Entwicklung seit Jahren konstant. Während die Angriffszahlen in den Landkreisen Meißen (2023: 3, 2022: 5) und Mittelsachsen (2023: 8, 2022: 7) ungefähr gleichblieben, gibt es im Vogtlandkreis einen deutlichen Rückgang um 67% auf 2 Vorfälle im Jahr 2023 (2022: 6).
Die Statistik für die Stadt Leipzig ist in Kooperation mit der Opferberatung der RAA Leipzig e.V. entstanden.
Im Verhältnis zur Einwohner*innenzahl bleibt das Bild der Schwerpunkte rechter Gewalt in Sachsen fast unverändert. Je 100.000 Einwohner*innen wurden in den Großstädten Leipzig (11,6), Chemnitz (9,5) und Dresden (7,6) die meisten Angriffe verübt. In den Landkreisen Zwickau (6,8), Görlitz (6,8) und Leipzig (6,6) ist die Angriffszahl trotz geringerer Bevölkerungsdichte hoch. Auch die Landkreise Bautzen (5,7) und Nordsachsen (5,6) weisen im Verhältnis recht hohe Angriffszahlen auf. Dahinter liegt der Landkreis Sächsische Schweiz – Osterzgebirge (3,3), der Erzgebirgskreis (2,7), der Landkreis Mittelsachsen (2,7), der Landkreis Meißen (1,3) und der Vogtlandkreis (0,9).
Der Anteil der Fälle, in denen Anzeige erstattet wurde, war in diesem Jahr mit 81% ein wenig höher als in den zurückliegenden Jahren. Das heißt, dass 200 der gezählten Angriffe polizeibekannt sind und lediglich 30 Fälle nicht angezeigt wurden. In 18 Fällen ist es uns nicht bekannt.
Von den 200 polizeibekannten Angriffen sind aktuell 107 Fälle als „PMK rechts“ (Politisch motivierte Kriminalität rechts) gewertet, soweit dies aus den vom Innenministerium im Zuge kleiner Anfragen im Sächsischen Landtag herausgegebenen Straftaten „Politisch motivierte Kriminalität – rechts“ hervorgeht.
2023 wurden knapp über die Hälfte der Angriffe (129) aufgrund von Rassismus, darunter antimuslimischer, antiromaistischer und antischwarzer Rassismus, verübt. Dies bedeutet einen Anstieg von 36% im Vergleich zu rassistisch motivierten Vorfällen im Jahr 2022 (95). Rassismus bleibt somit mit Abstand das häufigste Motiv unter den rechtsmotivierten Gewalttaten in Sachsen.
Ein deutlicher Anstieg ist auch bei antisemitisch motivierten Gewalttaten zu erkennen. In Sachsen wurden im Jahr 2023 sechs antisemitische Angriffe gezählt – drei davon standen in Zusammenhang mit dem Massaker vom 7. Oktober 2023, bei dem Hamas-Terroristen von Gaza aus Israel angriffen, mehr als 1.200 Menschen töteten und über 240 entführten. In diesem Kontext stiegen bundesweit antisemitische Vorfälle sprunghaft an. So wurden auch in Sachsen Menschen attackiert und antisemitisch beleidigt, die an Kundgebungen in Solidarität mit Israel und in Anteilnahme mit den Opfern des Massakers und ihren Angehörigen teilgenommen hatten. Doch auch zuvor registrierten die Beratungsstellen drei antisemitisch motivierte Angriffe.