Stellungnahme anlässlich des Gedenkens am 9. November 2021
Autor_innen: Bündnis gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen
Am 9. November 2021 jähren sich zwei Ereignisse, die in einem engen historischen Zusammenhang stehen, in ihrer Bedeutung für das jüdische Leben in Dresden jedoch nicht weiter voneinander entfernt liegen könnten: Der Beginn der reichsweiten Novemberpogrome 1938 in Dresden sowie die Weihe der Neuen Dresdner Synagoge am Hasenberg im Jahr 2001. …
… Das Bündnis gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen nimmt den doppelten Jahrestag zum Anlass, um zum einen der Jüdischen Gemeinde zu Dresden zu gratulieren und zum anderen der Opfer der Novemberpogrome und ihrer Folgen zu gedenken.
Im Namen des Bündnisses wünschen wir unseren Partner*innen von der Jüdischen Gemeinde zu Dresden Masel tov zum 20. Jahrestag der Weihe der Neuen Synagoge. Es erfüllt uns mit Freude, dass 83 Jahre nach der Zerstörung der Semper-Synagoge wieder ein ausdruckstarkes Zeichen der Lebendigkeit und Widerständigkeit jüdischen Lebens im Herzen der Dresdner Innenstadt zu finden ist. Dieser Freudentag kann aber nicht ohne das Gedenken an die entsetzliche Vorgeschichte des Neubaus begangen werden: Auch in Dresden kam es ab dem 9. November 1938 zur Zerstörung jüdischer Geschäfte, Wohnungen und Religionseinrichtungen, deren Höhepunkt schließlich die Sprengung der geschändeten und angezündeten Semper-Synagoge am 12. November 1938 darstellte. Wir gedenken aber nicht nur der reichsweiten Zerstörung von Synagogen sowie jüdischen Eigentums, sondern auch der zahlreichen als Jüdinnen und Juden Verfolgten – jenen, die vor den Augen ihrer Nachbar*innen beraubt, gedemütigt, verschleppt und ermordet wurden. Ihnen gilt unsere Anteilnahme und Trauer.
Dass dies explizit gemacht werden muss, resultiert aus der ambivalenten Geschichte des Erinnerns an die Novemberpogrome. Denn blickt man auf diese, fallen einige historische Ungenauigkeiten und eine, gewiss oft ungewollte, Verharmlosung der Ereignisseins Auge. Diese beginnen bei der lange Zeit gebräuchlichen Verwendung des im Grunde hämischen zeitgenössischen Begriffs „Reichskristallnacht“ und führen über die unhinterfragte Rezeption nationalsozialistischer Sachschadens- und Opferangaben bis hin zur zeitlichen und faktischen Verengung des Ereignisses auf die „Scherbennacht“ vom 9. zum 10. November. Ein angemessenes Gedenken an die Novemberpogrome muss hingegen hinter diese erinnerungspolitischen Fassaden und Floskeln schauen:
- Die Novemberpogrome begannen bereits am 7. November und endeten erst mit einer bis zum 16. November währenden Massenverhaftung von 30.000 Jüdinnen und Juden. Es handelt sich also um eine Pogromwoche.
- Das Ausmaß der Zerstörung jüdischer Kultur- und Sachwerte muss deutlich benannt werden. Entgegen der beschwichtigenden Propaganda des NS-Regimes wurden im gesamten Deutschen Reich mehr als 1.400 Synagogen und Gebetsräume sowie mehr als 10.000 Geschäfte zerstört und auch in Brand gesteckt.
- Während der Novemberpogrome wurden nicht nur Sach- und Kulturwerte zerstört. Reichsweit kamen im Zuge der unmittelbaren Pogromgewalt etwa 400 Menschen ums Leben. Zählt man noch die Opfer hinzu, die an den Folgen ihrer Verschleppung in die Gefängnisse und Konzentrationslager verstarben, gelangt man zu einer Opferzahl von mehr als 1.000. Zum Vergleich: Das ist mehr als das Zehnfache der lange aus der NS-Zeit übernommen Zahl von 91 Toten.
Dass wir mittlerweile ein genaueres Bild über das Ausmaß und die Schrecken der Pogromgewalt besitzen, ist nicht zuletzt einer Vielzahl lokalhistorischer Studien, vor allem aus dem ländlichen Raum, zu verdanken. Das gilt auch für Sachsen im Allgemeinen wie für Ostsachsen im Besonderen, wo sich zahlreiche engagierte Einzelpersonen, Initiativen und Vereine der Erforschung der Ereignisse von 1938 angenommen haben.
Mit Ausnahme von Dresden begannen die Novemberpogrome in Ostsachsen erst im Laufe des 10. November. In ihrem Ablauf ähnelten sie sich aber überall: Auf zentralen Befehl hin organisierten NSDAP, SA oder SS oftmals zivil gekleidete Mobs, die auf die von Jüdinnen und Juden betriebenen Geschäfte, Praxen, Firmen oder Fabriken losgelassen wurden. Dort, wo es wie in Bautzen, Dresden, Görlitz und Zittau auch Gebetssäle, Synagogen oder Friedhöfe gab, schreckten die Täter auch vor deren Zerstörung nicht zurück. Gewalt wurde aber auch hier nicht nur gegen Sachen angewandt – immer wieder kam es im Verlauf der Pogrome zu massiven körperlichen Angriffen und Demütigungen. Vor den Überresten der Dresdner Synagoge wurden am 10. November z. B. Vertreter der Israelitischen Gemeinde einer Menge von ca. 2.000 Personen vorgeführt und gezwungen, sich vor den Schaulustigen zu verbeugen. In Meißen wiederum wurden sechs zuvor in sogenannte Schutzhaft genommene Männer auf dem Marktplatz erniedrigt. Und in Bautzen wurden Mitglieder der Jüdischen Gemeinde durch den Ort getrieben, zu Sportübungen gezwungen und dabei mit Steinen beworfen und bespuckt. Grausam war auch ein Vorfall in Wilthen bei Bischofswerda: Eine ansässige Unternehmerin und ihr Besuch wurden an einen Leiterwagen gebunden und vor einer gaffenden Menge durch den Ort gezogen. Wie in anderen Regionen des Reiches forderte die Gewalt auch in Sachsen zahlreiche Todesopfer: Namentlich bekannt sind uns Felix Benno Cohn und Rachmiel Preis aus Leipzig sowie Hermann Fürstenheim aus Chemnitz, die im Laufe des 10. November erschossen wurden, sowie das Ehepaar Sally und Rosa Teitelbaum aus Muskau, das durch den entgrenzten Terror in den Selbstmord getrieben wurde. Sie blieben nicht die einzigen Toten: Von den ca. 900 bis zum 16. November 1938 in Sachsen Verschleppten verstarben allein 14 weitere im Konzentrationslager Buchenwald oder an den Folgen der dort erlittenen Misshandlungen. Und dies war erst der Anfang des systematischen Massenmordes.
Die notwendige Beschäftigung mit den historischen Fakten und den Opfern der Novemberpogrome darf aber letztlich nicht von der aktuellen Gefahr des Antisemitismus ablenken. Allein die Chronik unseres Bündnispartners RAA Sachsen e. V. listet für das Jahr 2021 24 Vorfälle aus Sachsen auf, in denen Antisemitismus mindestens durch Redebeiträge, Parolen oder Graffitis im öffentlichen Raum verbreitet wurde. Traurige Höhepunkte bilden vier Körperverletzungsdelikte in Trebsen, Dresden, Leipzig und Chemnitz, die auch durch den Antisemitismus der Täter*innen motiviert waren. Will das Gedenken an die Novemberpogrome das vielbeschworene „Nie wieder“ ernst nehmen, muss es sich auch mit den Betroffenen dieser Angriffe solidarisieren und darüber hinaus deutlich machen, dass der Kampf gegen Antisemitismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit einer alltäglichen und gesamtgesellschaftlichen Kraftanstrengung bedarf.
Dafür treten wir gemeinsam ein, in Solidarität mit allen Betroffenen von Antisemitismus.
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Wer mehr über das grausame Schicksal der im Nationalsozialismus Verfolgten in Dresden und Ostsachsen erfahren und an dieses erinnern möchte, kann sich u.a. an den folgenden Gedenkveranstaltungen beteiligen:
- Dresden, 09.11.21, 15:30 Uhr, Stele am Brühlschen Garten, Brühlscher Garten 1: „Gedenken an der Stele“
- Dresden, 09.11.21, 17 – 22 Uhr, Eisenbahnstraße 1: Videoinstallation „Stolperstein Alter Leipziger Bahnhof – eine Leerstelle in der Erinnerungskultur der Stadt Dresden“
- Dresden, 09.11.21, 19 Uhr, Hansastr. 3: Vortrag des Stolperstein e.V. mit anschließendem Spaziergang zum Empfangsgebäude des Alten Leipziger Bahnhofs
- Görlitz, 09.11.21, 17 Uhr, Salomonstraße 41: „GehDenken“ – Pogromgedenken und Stolpersteineputzen sowie weitere Veranstaltungen im Rahmen der „Jewish Rememberance Week“
- Pirna, 09.11.21, 17 Uhr, Am Markt: Stadtrundgang im Gedenken an die Novemberpogrome von 1938
- Weißwasser, 10.11.21, 17 Uhr, Marktplatz: Stadtrundgang im Gedenken an die Novemberpogrome von 1938
- Zittau, 09.11.21, 10 Uhr, Theodor-Körner-Allee 13: Stolperstein-Nachverlegung für Familie Duneck
- Zittau, 09.11.21, 18:30 Uhr, Gedenktafel Lessingstraße: Gedenken mit musikalischer Umrahmung und anschließender Führung zu den Zittauer Stolpersteinen
Für weitere Informationen zu den Novemberpogromen in Sachsen und zur Geschichte des Gedenkens empfehlen wir u. a.:
- Daniel Ristau: Der 9. November 1938: Die Novemberpogrome in Sachsen im Spannungsfeld zwischen Geschichtsforschung, Gedenkkultur und persönlicher Erinnerung, in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 12 (2018) 23, online unter: https://www.medaon.de/en/artikel/der-9-november-1938-die-novemberpogrome-in-sachsen-im-spannungsfeld-zwischen-geschichtsforschung-gedenkkultur-und-persoenlicher-erinnerung/
- Harald Schmid: Der bagatellisierte Massenmord: Die „Reichsscherbenwoche“ von 1938 im deutschen Gedächtnis, in: Rainer Hering (Hg.): Die „Reichskristallnacht“ in Schleswig-Holstein. Der Novemberpogrom im historischen Kontext, Hamburg (2016), online unter: https://hup.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2016/162/chapter/HamburgUP_LASH109_Pogromnacht_Schmid.pdf