Radikale Offenheit: Die Stadt für alle, die da sind

Warum ist das Recht auf Stadt eine Antwort auf den Rechtsruck?

Das Recht auf Stadt ist der Gedanke eines solidarischen Zusammenlebens und Gestaltens der Stadt und hat damit utopischen Gehalt. Es geht mir nicht darum, dieses Recht zu einer Lösung der rechten Verschiebung zu instrumentalisieren, denn es muss gelebte Praxis sein. Dennoch denke ich, dass die Idee auch eine Möglichkeit sein kann, sich dem autoritären Nationalismus zu stellen (und dem autoritären Neoliberalismus). Denn meines Erachtens kommt ein Recht auf Stadt dem Politikverständnis Hannah Arendts nahe. Sie hat das gemeinsame politische Handeln in Freiheit zum Mittelpunkt ihres Denkens gemacht hat – Politik ohne Herrschaft und Gehorsam. Dieses Denken betont die Beziehungen, die kollektiven Handlungen und die Initiative und schafft damit einen Wechsel in Perspektiven und dem Verständnis davon, wie Politik ist.


Durch solidarische Praxen und das Knüpfen von neuen Beziehungen1 verändert sich das Verhältnis der Bewohner:innen zueinander und zur Stadt.


1. Das Recht auf Stadt stiftet Gemeinschaft, ohne dabei ausschließend oder endgültig zu sein. Zur Stadt gehören alle, die sie bewohnen. Die städtische Gemeinschaft ist also einerseits konkret, denn es gibt die gemeinsam bewohnte Stadt (im Gegensatz zur abstrakten Gemeinschaftsvorstellung der Nation oder Heimat25). Andererseits ist diese Gemeinschaft offen, es braucht keine Staatsangehörigkeit oder gar ethnisch-nationale Zugehörigkeit. Geteilt werden nicht Eigenschaften oder individuelle Interessen, sondern der Bezug zur Stadt.

Hannah Arendt beschreibt die Beziehung zwischen Bürger:innen mit dem Begriff Freundschaft: Die Freund:innen sind sich nicht gleich und einig. Was sie teilen, ist das Sprechen und die Auseinandersetzung um die Stadt bzw. die gemeinsame Welt.26 Diese Freundschaft ist der Welt zugewandt und somit politisch, nicht vordergründig intim oder privat. Die gemeinsame Sorge umeinander und um die Stadt stiftet Verbindungen zwischen den Bewohner:innen. Solche solidarischen Beziehungen sind für ein Recht auf Stadt für alle zu knüpfen.27

Auf die Stadt bezogen könnte man sagen: Manche mögen es laut, andere leise, das ist nicht zu ändern. Aber die Stadt muss so eingerichtet sein, dass es alle aushalten können. Das Problem sind dann nicht die „störenden Jugendlichen“, sondern der fehlende Raum. Ohne alle dasselbe wollen zu müssen, können Fragen und Antworten bezogen auf das Gemeinsame diskutiert werden – bezogen auf die Stadt – und nicht ausschließlich im Gegeneinander individueller Interessen.

2. Das Recht auf Stadt verbindet Fragen von Anerkennung und von Ökonomie – die derzeit oft als identitätspolitische und sozialpolitische Kämpfe gegeneinander ausgespielt werden. Konservative bis völkische Rechte behaupten gar eine heimliche Kulturrevolution oder fundamentale Linksverschiebung, gepaart mit der Anschuldigung, eine linke Elite hätte diese Verschiebung im Verborgenen durchgeführt, anstatt die Kämpfe und Aushandlungen für Gleichbehandlung, Repräsentation und Vielfalt anzuerkennen. Gegen gleiche Rechte für Queers und Frauen wird immer wieder ein beleidigter „kleiner Mann“ in Stellung gebracht. Dieser würde nun gegen die überhebliche und unnötige „Political Correctness“ protestieren, um derentwillen er links liegen gelassen worden sei.28

Tatsächlich ist das Recht auf Verschiedenheit ein zentraler Aspekt des Rechts auf Stadt. Es geht dabei aber nicht um ein neoliberales Zurschaustellen beliebiger Vielfalt bei gleichzeitiger Ungleichheit. Das Recht auf die Ressourcen der Stadt (so unterschiedliche wie Wasser, Wohnen, Gesundheit, Wissen) ist ebenso zentral wie das Recht auf kollektive demokratische Aushandlung. Wichtig ist: Sie stehen in Zusammenhang. Die Ressourcen der Stadt – die Stadt selbst – gibt es nicht ohne die vielen Stadtbewohner:innen und ihre Unterschiedlichkeit.

Das Recht auf Differenz ist außerdem nicht nur ein Recht von Minderheiten und Diskriminierten, quasi entsprechend der gängigen Vorstellung von Toleranz, bei der die Mehrheitsgesellschaft die Anderen aushält. Alle gemeinsam genießen das Recht auf Differenz. Man tritt sich auf die Füße, aber man hält sich aus. Man lernt Dinge kennen, die man sich selbst nicht gesucht hätte. Es ist kein individuelles Recht – meins gegen deins –, sondern ein gemeinsames, das zwischen einander existiert. Ich kann kein Recht auf Differenz haben ohne die Anderen, die von mir verschieden sind.29


Alle gemeinsam genießen das Recht auf Differenz.


3. Der autoritäre Sog betrifft nicht nur extrem rechte Bewegungen, sondern Gesellschaft und Staat insgesamt.30 Während das Bedürfnis nach Sicherheit grundsätzlich legitim ist, fällt auf, dass es in der öffentlichen Debatte in der Regel nur eine Form gibt, nämlich eine über Staat und Polizei vermittelte repressive Sicherheit, die die Einen vor den Anderen schützen soll bzw. die Ordnung vor Unruhe, die Innere Sicherheit.31

Das Recht auf Stadt stellt Fragen nach Sicherheit, die nicht mit autoritären Law-and-Order-Maßnahmen zu beantworten sind, denn es sind Fragen nach sozialer Sicherheit. Es verändert also die Rahmung. Verkehrssicherheit ist vor allem eine Frage guter Infrastruktur, nicht von Überwachung und Kontrolle. Leistbarer Wohnraum stiftet Sicherheit. Zugang zu medizinischer Versorgung schafft Sicherheit. Städtische Sicherheit kann unter der Perspektive des Rechts auf Stadt anders diskutiert werden, ohne das Thema autoritären Rechten zu überlassen oder ihr Framing zu bedienen.

4. Das Recht auf Stadt schafft einen Perspektivwechsel von der Abwehr des autoritären Sogs zum Gestalten der Migrationsgesellschaft. Es lädt dabei weder dazu ein, die Rechten einfach zu ignorieren, noch sich an ihnen abzuarbeiten. Pegida Dresden wuchs nicht etwa, weil der antirassistische und antifaschistische Gegenprotest die Teilnehmenden als Reibungsfläche angelockt hätte.32 Sondern Pegida Dresden entwickelte angesichts des deutlich kleineren Gegenprotests ein Gefühl der Überlegenheit, Bewegungseuphorie und eine Vorstellung, ihnen gehöre die ganze Stadt, was sich andernorts gar nicht erst einstellen konnte.33 Appelle, sich um die Rechten „einfach nicht zu kümmern“, sind sicher keine gute Strategie, schon gar nicht, wenn rechte Angriffe Alltag bedeuten.

Doch das Recht auf Stadt ist mehr, als den Rechtsruck zu verneinen. Es stellt eigene Forderungen und Visionen in den Mittelpunkt. Es rückt die Realität einer von Migration geprägten Gesellschaft ins Zentrum, gemeinsam mit sozialen Fragen, strukturellem Rassismus sowie konkreter Nachbarschaft und Räumen in der Stadt. Das sind Fragen auch für sächsische Städte und lange nicht nur für Dresden und Leipzig.34

Das Recht auf Stadt lässt über das Bestehende hinausdenken, es lässt Veränderung denken. Es ist keine Seifenblase, weil es konkret ist, denn die Stadt, ihre Räume und Beziehungen sind da. Es bietet einen Ausgangspunkt.

5. Das Recht auf Stadt entspricht einer ganz anderen Weise, Politik zu begreifen als in der neoliberalen Demokratie; der Politikauffassung der autoritären Rechten steht das Konzept diametral gegenüber. Um Autoritarismus zu überwinden, braucht es eine Vorstellung davon, wie die Welt nichtautoritär eingerichtet werden kann.

Das Volk will es, die Politik macht es und setzt es durch – souverän, unmittelbar und notfalls mit harter Hand. Das meinen völkische Autoritäre, wenn sie von Demokratie sprechen: autoritäre Volksherrschaft.35 Daher rührt etwa die Vorstellung, der Staat könne Migration einfach „verbieten“, obwohl es sich um einen komplexen, globalen gesellschaftlichen Prozess handelt. Wenn solche Forderungen nicht umgesetzt werden, greifen Verschwörungsmythen von Politiker:innen als Marionetten oder der BRD als unfreier GmbH statt als souveräner Staat. Gemäß der autoritären Vorstellung ist Politik gleich Souveränität, ist Beherrschung von Welt. Das Versprechen der Souveränität des liberal-demokratischen Staates wird hier beim Wort genommen. Dieses Versprechen kann jedoch nie eingehalten werden, denn kein Staat ist im globalen Kapitalismus souverän und kann über gesellschaftliche Prozesse so verfügen, dass sie unmittelbar beherrschbar wären.

Souveränität ist zudem kein erstrebenswerter Zustand, weder für Staaten noch für Subjekte. Hannah Arendt hat eine grundsätzliche Kritik am modernen Souveränitätsdenken formuliert. Denn Souveränität bedeutet die Beherrschung von Mitteln und Zielen. Das widerspricht dem gemeinsamen Handeln aus einer Beziehung heraus: „Der Handelnde bleibt immer im Bezug zu anderen Handelnden und von ihnen abhängig; souverän ist er gerade nie.“36 Man könnte unterscheiden zwischen Beherrschen und Gestalten der Welt.

Das politische Handeln muss für Hannah Arendt immer ergebnisoffen sein, um frei zu sein. Es darf nicht über andere herrschen oder stur Zwecklogiken verfolgen. Ich interpretiere das nicht als inhaltliche Beliebigkeit, sondern als Betonung des kollektiven Aushandlungsprozesses, in dem nicht über vorgegebene Fragen abgestimmt wird wie bei einem Plebiszit, sondern gemeinsam besprochen wird, was die Belange, Fragen und Perspektiven sind. Die Form „der Gleichzeitigkeit, der Versammlung, des Zusammenwirkens der Begegnung“37 macht für den Stadt-Theoretiker Lefebvre das Urbane überhaupt aus.


25 Siehe den Beitrag von Thorsten Mense in diesem Band.

26 Vgl. Arendt (2018a): 76ff.

27 Hannah Arendt nutzt den Begriff der Solidarität nicht und grenzt ihr Konzept von Freundschaft explizit ab von Ideen der Brüderlichkeit, die die Menschen zu eng zueinander bringen – wie in Familienbande. Ich würde aber sagen, ihr Freundschaftsbegriff entspricht einer politischen Form von Solidarität.

28 Vgl. Eitel (2019): 157ff. Die „kleinen Leute“ können demnach gemäß ihrer sozialen Situation kein Interesse an emanzipatorischen Veränderungen haben, sondern werden als notwendig konservativ dargestellt.

29 Das ist eine andere Rechtsvorstellung als die der liberalen Rechte, die als Rechte gegeneinander kritisiert werden, die voneinander entfremden (Kritik z. B. von Karl Marx) und der Souveränität bedürfen (Kritik z. B. von Arendt), vgl. Loick (2012): 160ff., 172–178.

30 Vgl. Eitel (2018). So war etwa auch das neue Sächsische Polizeigesetz Thema auf der Demokratie-Tagung im Jahr 2018, vgl. Weiterdenken (2018).

31 Vgl. Busch (2018).

32 Das mag auf Einzelpersonen zutreffen, ist jedoch vor allem gängiges Deutungsmuster innerhalb der Extremismustheorie, die Rassismus dadurch verharmlost, dass sie ihn mit Antifaschismus gleichsetzt oder sogar als Reaktion von ihm ableitet, vgl. epd (2012).

33 Vgl. Zeit Online (2014).

34 Siehe das Interview von Johannes Richter mit Hamida Taamiri aus Bautzen in diesem Band.

35 Für das Beispiel Pegida siehe etwa Eitel (2016).

36 Arendt (2020): 295; ebenso widerspricht der Gedanke des Gehorsams Arendts Verständnis des Politischen als gemeinsames Handeln, vgl. Arendt (2018b): 50ff.; siehe den Beitrag von Julia Schulze Wessel in diesem Band.

37 Lefebvre (2016): 124.

>> Seite 4 | Solidarische Allianzen


Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

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Redaktion TolSax

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