Radikale Offenheit: Die Stadt für alle, die da sind
Hannah Eitel
Auf der Suche nach Antworten auf den „autoritären Sog“1 gibt es unterschiedliche Ansätze und Praxen. Es geht darum, rassistischen Positionen zu widersprechen, entgegenzutreten und darüber aufzuklären. Aktivist:innen versuchen, autoritäre Politiken zu sabotieren oder rechte Demonstrationen zu blockieren. Neben diesen eher reagierenden Ansätzen gibt es häufig den Wunsch, eigene Inhalte und Visionen einer solidarischen Gesellschaft in den Mittelpunkt des eigenen Handelns zu stellen. Solidarische Beziehungen in einer urbanen Gesellschaft zum Fokus zu machen, ist ein solcher Ansatz und das „Recht auf die Stadt“ ein Beispiel dafür, dem sich dieser Text widmet.
Unter dem Motto „Recht auf Stadt“ versammelt sich eine Bandbreite Initiativen und Organisierungen zu sozialen und ökologischen Themen wie Wohnen und Verdrängung, Wasserversorgung, Verkehrswende, Gesundheit und Erholung. Genauso werden antirassistische und demokratische Felder wie Bleiberecht, Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten, Antidiskriminierung und Mitbestimmung als Rechte auf Stadt verhandelt.
Bei der Frage danach, wie politisches Handeln im autoritären Sog möglich ist, kommt das Recht auf Stadt in den Sinn. Es verbindet progressive Kämpfe, die nicht nur den autoritären Sog – oder landläufig Rechtsruck – beantworten. Mit politischen Tätigkeiten für ein Recht auf Stadt werden eigene Inhalte, Ziele und Ideen gesetzt. Dennoch geraten dabei weder die neoliberalen Verhältnisse aus dem Blick noch die rechtsautoritären Angriffe und Maßnahmen gegen Demokratie und Neoliberalismus. Denn das Recht auf Stadt versammelt nicht nur Kampagnen von verschiedenen Themenfeldern und Aktivist:innen. Es stellt die Beziehungsweisen der Konkurrenz und Ungleichheit infrage, weil es andere Beziehungen zwischen den Stadtbewohner:innen vorschlägt: Beziehungen der Solidarität.2
Das Recht auf Stadt stellt die Beziehungsweisen der Konkurrenz und Ungleichheit infrage, weil es andere Beziehungen zwischen den Stadtbewohner:innen vorschlägt: Beziehungen der Solidarität
Es ist eine andere Idee als die der liberalen Ich-AG, die vereinzelt mit den anderen Städter:innen konkurriert (um Wohnraum, im Straßenverkehr, um Durchsetzung der Interessen). Sie ist gleichzeitig keine völkisch-autoritäre Zwangsvergemeinschaftung. Mit dem Recht auf Stadt lässt sich Gemeinsames und kollektives Handeln denken und gleichzeitig radikale Offenheit. Denn die Stadt sind alle, die da sind, egal wie verschieden sie sind.
Die Stadt sind alle, die da sind, egal wie verschieden sie sind.
Ich werde die Bandbreite von Initiativen und Kämpfen auffächern und dann die Idee eines Rechts auf Stadt skizzieren. Warum ist das Recht auf die Stadt angesichts autoritärer Verschiebungen so verlockend – als Parole, Praxis und Idee? Das Konzept ermöglicht einen Perspektivwechsel und drängende Fragen anders zu denken, als es die immer stärkere Diskursverschiebung ins Autoritäre erlaubt, so meine These.
Wofür kämpfen Bewegungen für das Recht auf Stadt?
Das Recht auf die Stadt ist zugleich Idee wie Parole, es wird in wissenschaftlichen Debatten genutzt wie von stadtpolitischen Bewegungen weltweit; entsprechend unterschiedlich sind die Verständnisse und Praxen.3 Ich will beispielhaft einige Praxen aufzeigen, bevor es um das Konzept gehen soll.
Bewohner:innen einiger Stadtteile Rio de Janeiros beriefen sich auf ihr Recht auf Stadt, als sie wegen der Bauprojekte für die Fußballweltmeisterschaft der Männer (2014) und die Olympischen Spiele (2016) zwangsweise aus ihren Vierteln verdrängt wurden.4 Für den Erhalt des Gezi-Parks in Istanbul besetzten teilweise Hunderttausende den Park; dabei ging es unter anderem um den Erhalt einer der wenigen grünen Erholungsflächen in der Stadt.5 Proteste gegen Verdrängung, Gentrifizierung, Kommerzialisierung und Segregation finden weltweit statt. Teure Mieten, Immobilienspekulation und vermehrte Wohnungsarmut und Wohnungslosigkeit machen auch vor Städten in Deutschland nicht halt; auch in Dresden und Leipzig engagieren sich Mieter:innen für ihre Rechte.6
In Chile demonstrierten zum Weltfrauentag 2020 Hunderttausende, zuvor hatten Feminist:innen Denkmäler, Plätze und Parks nach Frauen umbenannt, um im städtischen Raum sichtbar zu werden.7 Die Black Lives Matter-Bewegung hat in den letzten Jahren auch für das Recht auf Stadt gekämpft: Bewegungsfreiheit in der Stadt ohne Polizeikontrollen, Selbstorganisation Schwarzer Nachbarschaften, gegen Verdrängung der Schwarzen Bevölkerung an die Stadtränder und nicht zuletzt für Sicherheit – nicht die repressive Sicherheit rassistischer Polizeigewalt, sondern Sicherheit für die (Schwarzen) Städter:innen und ihr Zusammenleben.8 Das Recht auf Stadt kann nicht nur ökonomisch verstanden werden: Fragen um Zugehörigkeit, Zugang, Mitbestimmung und Verdrängung sind verknüpft mit dem strukturellen Rassismus und Sexismus der Städte.
Das betrifft nicht nur die USA: Kampagnen gegen Racial Profiling kämpfen für den freien Zugang zu öffentlichen Orten wie Bahnhöfen oder Plätzen. Polizeiliche „Gefahrengebiete“ oder „Waffenverbotszonen“ wie die Leipziger Eisenbahnstraße schränken bestimmte Gruppen besonders ein oder schließen sie aus, vor allem Arme, People of Color oder Menschen, die als unangepasst wahrgenommen werden.9
Für hiesige Recht auf Stadt-Bewegungen ist auch das Bleiberecht für Geflüchtete und Migrant:innen ein zentraler Punkt: Die Bewegung Seebrücke hat sich gegründet, um für sichere Fluchtwege und die Aufnahme von Geflüchteten einzustehen. Grundlage hierfür ist, dass sich viele Städte längst bereit erklärt haben, Geflüchtete aufzunehmen, die auf Rettungsschiffen im Mittelmeer oder in Lagern ausharren müssen, weil nationale Regierungen ihnen die Einreise verweigern.10 Eine Solidarität der Städte soll der Abschottungspolitik auf nationalstaatlicher Ebene entgegenstehen. Fast 170 große und kleine Städte haben sich in der Folge zum „sicheren Hafen“ erklärt (in Sachsen ausschließlich Leipzig). Jedoch muss erwähnt werden, dass dies gegenüber der Bundesregierung kaum durchgesetzt werden kann. So verkünden Städte ihre Aufnahmebereitschaft, doch die Bundesregierung entscheidet letztlich über die Einreise.
Zum Recht auf Stadt gehören neben der Aufnahme auch die Rechte auf Wohnen, Zugang zu städtischen Gütern und Selbstbestimmung. Viele Ehrenamtliche haben sich den Forderungen von Geflüchteten nach dezentraler, selbstbestimmter Unterbringung in eigenen Wohnungen statt in fremdbestimmten Lagern an den Stadträndern angeschlossen. Das Recht auf Stadt soll für alle gelten, ist die Forderung.
Ideen des Recht auf Stadt werden teilweise auch von der städtischen Administration aufgenommen: In New York gibt es eine „City ID“, einen Stadtausweis, der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken ermöglicht und von der Polizei als gültiges Ausweispapier anerkannt werden soll.11 Nachbarschaftsorganisierungen sind es, die den Stadtausweis verbreiten. Die City ID richtet sich auch an New Yorker:innen ohne Aufenthaltstitel. Auch wenn der Stadtausweis seine Grenzen hat, wird er von marginalisierten New Yorker:innen offenbar wertgeschätzt.12 Wer die ID hat, ist New Yorker:in – gehört also zur Stadt, unabhängig von der Herkunft.
1 Siehe Einleitung dieses Bandes.
2 Zur Idee, Gesellschaft zu verändern, indem Beziehungen verändert und neue geknüpft werden, siehe Adamczak (2018a).
3 Vgl. Mullis (2013).
4 Vgl. Bello/Queiroz (2018).
5 Vgl. Schmitz (2014).
6 Etwa in den Bündnissen Mietenwahnsinn stoppen! in Leipzig und Dresden.
7 Vgl. Peters (2020).
8 Vgl. Moore (o. J.).
9 Vgl. Högele/Kücük (2020).
10 Vgl. Seebrücke (o. J.).
11 Vgl. City of New York (2019).
12 Vgl. Lebuhn (2016).
>> Seite 2 | Was heißt Recht auf Stadt?
Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“
2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0