Queeres Netzwerk Sachsen: Lebenslagen von LSBTTIQ* in Sachsen angesichts der Corona-Krise
Stellungnahme der LAG Queeres Netzwerk Sachsen vom 7. April 2020 (facebook)
LSBTTIQ* in Sachsen sind von der aktuellen Pandemiekrise und den damit verbundenen Einschränkungen zunächst ebenso betroffen, wie alle anderen sächsischen Bürger*innen. Viele arbeiten in Kurzarbeit, sind von Jobverlust oder wegbrechenden Aufträgen bedroht und machen sich Sorgen um ihre Gesundheit.Hinzu kommen jedoch spezielle Bedarfe, Belastungen und Lebenssituationen, die mit der Zugehörigkeit zur Gruppe der LSBTTIQ* und der Marginalisierung bzw. Diskriminierung dieser Gruppe in der sächsischen Bevölkerung einhergehen.
- So können Selbsthilfegruppen, Unterstützungsnetzwerke und Beratungsstellen etwa nicht mehr in gewohnter Weise arbeiten. Viele LSBTTIQ* in Sachsen leben unabhängig vom Alter allein, sind vielleicht Singles und haben manchmal keine Kontakte mehr zur Herkunftsfamilie. Psychische Probleme wie Depressionen oder Angsterkrankungen werden für viele die Folge sein.
- Die Kontaktbeschränkung auf Mitglieder des Haushalts bzw. den Besuch bei Lebenspartner*innen erhöht in allen Bevölkerungsgruppen die Gefahr häuslicher Gewalt mit allen bekannten Folgen. Nicht alle Beratungsstellen sind in diesen Fällen mit den Lebensrealitäten von LSBTTIQ* vertraut. Frauen- und Männerschutzhäuser sind z.B. für Trans* Personen bzw. nicht-binäre Menschen ohne Personenstands- und Namensänderung nicht immer in gewünschter Weise nutzbar.
- Unklare Definitionen in der sächsischen Corona-Schutz-Verordnung, etwa zum „Umfeld des Wohnbereichs“, lassen Beamt*innen von Polizei und Ordnungsamt einen gewissen Ermessensspielraum. Von Diskriminierung betroffene Menschen wie LSBTTIQ* können hier weitere Nachteile erfahren, wenn die Beamt*innen beispielsweise Vorurteile haben oder nicht für die Lebensrealitäten von LSBTTIQ* sensibilisiert sind.
Darüber hinaus gibt es weitere besonders betroffene Personengruppen bzw. Bedarfslagen:
LSBTTIQ* Kinder- und Jugendliche
- Diese müssen ihre direkten Kontakte auf die Familie bzw. die Personen im Haushalt beschränken. Im Prozess des Coming-Outs bzw. bei nicht-akzeptierenden Eltern/ Haushaltsmitgliedern kann dies zu häuslicher Gewalt, Isolation und psychischen Problemen führen. „Neutrale“ Personen/ Freund*innen von außen können nicht über direkten Kontakt unterstützen/ intervenieren.
- Nicht alle Betroffenen haben durchgängig die Möglichkeit, das Internet zu nutzen, um den Kontakt zu Freund*innen zu halten oder Beratungs- und Unterstützungsangebote anzunehmen.
- Bundesweit wird allgemein mit einem Anstieg psychosozialer Probleme und Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen durch die Kontaktbeschränkungen gerechnet. Hilfesuchende können sich nicht immer sicher sein, dass Beratungshotlines, etwa die der Kinder- und Jugendnotdienste, im Einzelnen für die Lebenslagen von LSBTTIQ* Kindern und Jugendlichen sensibilisiert sind.
- Viele der beratenden, szenenahen Vereine in Sachsen rechnen mittelfristig mit einem deutlichen Anstieg entsprechender Beratungsanfragen.
Ältere LSBTTIQ*
- Ältere Menschen gehören zur COVID 19-Risikogruppe und sind angehalten, die Wohnung nicht zu verlassen bzw. physische Kontakt zu vermeiden. Ältere LSBTTIQ* haben oftmals keine jüngeren Angehörigen, die Einkäufe erledigen könnten oder die sich um sie kümmern.
- Nachbarschaftshilfe, etwa über Hotlines, wird von älteren LSBTTIQ* tendenziell weniger in Anspruch genommen, weil sie unfreiwillige Coming Outs oder Diskriminierungen befürchten. Die sowieso bestehende soziale Isolation älterer LSBTTIQ* kann sich nun noch deutlich verstärken.
Trans* Menschen, nicht-binäre Menschen
- Trans* Menschen sind besonders auf psychosoziale und medizinische Versorgung angewiesen. Viele Angebote, Arzttermine und Sprechstunden müssen jedoch gegenwärtig verschoben oder abgesagt werden. Das betrifft insbesondere auch geschlechtsangleichende Operationen, auf die Betroffene nicht selten regulär deutlich länger als ein Jahr warten.
- Auch die für die Personenstandsänderungsverfahren gemäß Transsexuellengesetz (TSG) vorgeschriebenen Beratungs- und Begutachtungstermine bei Psychotherapeut*innen bzw. bei Amtsgerichten werden nun häufig abgesagt. Die Zeitdauer der Verfahren wird deutlich verlängert und als sehr belastend empfunden. Initiativen und Dachverbände wie die LAG Queeres Netzwerk Sachsen e.V. fordern seit Langem die Abschaffung der Gutachten- und Gerichtspflicht.
- Trans*männlichen und nicht-binären Personen wird gegenwärtig aus medizinischen Gründen geraten, bei Husten das Abbinden der Brust auszusetzen. Denn dieses könnte zu einem höheren Risiko von Komplikationen im Falle einer Corona-Infektion führen. Auch hiermit können im Einzelfall psychische Probleme verbunden sein.
- Die Sächsische Corona-Schutz-Verordnung sieht vor, dass „triftige Gründe“ für den Gang nach draußen durch das Mitführen des Personalausweises oder anderer amtlicher Personaldokumente glaubhaft gemacht werden sollen. Insbesondere Trans* Menschen ohne Namens- und Personenstandsänderung und nicht-binäre Menschen stehen hier vor Herausforderungen, wenn Erscheinungsbild und Ausweisfoto, Name bzw. Geschlechtseintrag (bei Reisepass) nicht übereinstimmen. Gegenwärtig kann nicht davon ausgegangen werden, dass Beamt*innen der sächsischen Polizei oder der Ordnungsämter ausreichend für die Lebenslagen von Trans*- und nicht-binären Menschen sensibilisiert sind. Betroffene müssen beispielsweise mit Unglauben, intimen Nachfragen, Zwangsouting oder mit abwertenden Bemerkungen rechnen.
- Viele Trans* Menschen und nicht-binäre Menschen in Sachsen sind generell von sozialer Isolation betroffen. Ihre Vereinsamung kann gegenwärtig jedoch zunehmen. Entlastende Gruppen- und Beratungsangebote können nur eingeschränkt zur Verfügung stehen.
Regenbogenfamilien
- Manche Eltern treibt die Sorge um, dass sie aufgrund der fehlenden rechtlichen Anerkennung der zweiten Elternschaft, insbesondere in lesbischen Ehen, im (medizinischen) Notfall bei fehlender Stiefkindadoption rechtlos sind.
- In Zeiten von Schul- und Kitaschließungen und ggf. drohendem Jobverlust für Eltern kann es vermehrt zu familiären Konflikten kommen. In Sachsen sind nicht alle Familienberatungsstellen in ausreichendem Maß für Lebenslagen und Bedarfe von LSBTTIQ*- bzw. Regenbogenfamilien sensibilisiert.
- Die Hürde, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist hoch. Dies kann zu einer höheren Zahl an Beratungsanfragen bei den beratenden, szenenahen Vereinen in Sachsen führen.
Blutspendeverbot
- Gegenwärtig werden die Blutkonserven auch in Sachsen knapp und die Bevölkerung ist zum Blutspenden aufgerufen. Schwule und bisexuelle Männer sind jedoch seit 2017 nur zur Blutspende zugelassen, wenn sie seit 12 Monaten enthaltsam gelebt haben. Hier fordern Initiativen und Dachverbände seit langem einen Abbau der bestehenden Diskriminierung: Das Risiko bemisst sich nicht nach der sexuellen Orientierung, sondern nach dem Risikoverhalten.
- Für Trans* Menschen existieren derzeit keine eindeutigen Regelungen. Viele von ihnen berichten jedoch, dass sie nicht zur Blutspende zugelassen werden, weil sie entweder in die Kategorie „schwul“ eingeordnet werden oder pauschal als Sexarbeiter*innen gelten. Manche berichten auch, dass sie unter pauschalem Verweis auf ihren „unnatürlichen Hormonspiegel“ von der Blutspende ausgenommen werden. Gerade in der gegenwärtigen Krise sind Maßnahmen nötig, die diese Diskriminierungen unterbinden.
Menschen mit HIV
- Menschen mit HIV unter wirksamer HIV-Therapie sind nach aktuellem Kenntnisstand nicht in besonderer Weise durch eine Infektion mit dem Coronavirus gefährdet. Allerdings fehlt hierzu eine empirische Datenbasis.
- Sämtliche Veranstaltungen der Aidshilfen wurden bis auf weiteres abgesagt. Die Test- und Beratungsangebote werden eingeschränkt fortgeführt. Davon betroffen sind auch entsprechende Angebote im ländlichen Raum in Sachsen, was den Zugang Betroffener in diesen Regionen erheblich einschränken könnte.
LSBTTIQ* Geflüchtete
- Schon seit längerem wird kontinuierlich daran gearbeitet, LSBTTIQ*-Geflüchtete, unter Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit, in dezentralen Wohnungen im Stadtgebiet der Ballungszentren unterzubringen. Dennoch leben viele in größeren Gemeinschaftsunterkünften und/ oder im ländlichen Raum. Dieser ohnehin sehr problematische Ist-Zustand hat sich durch die Corona-bedingte Kontaktbeschränkung enorm verschärft. Die Auflage, den zugewiesenen Wohnraum nicht zu verlassen, stellt für viele LSBTTIQ* Geflüchtete ein erhöhtes Sicherheitsrisiko dar. Viele befürchten, zwangsweise vor den Mitbewohner*innen geoutet zu werden und dann keine Möglichkeit des Rückzugs zu haben.
- Weiterhin sind viele LSBTTIQ* Geflüchtete aufgrund ihrer oftmals stark traumatisierenden Erfahrungen (in den Herkunftsländern und während der Flucht), wegen der teilweise großen Unsicherheit bezüglich der Bleibeperspektive, und auch aufgrund der mentalen Stresssituation der Lebensumstände psychisch vorbelastet. Die soziale Isolation verstärkt diese ohnehin kritische Situation enorm und kann eine Spirale der stetigen Verschlechterung des seelischen Zustandes in Gang setzen. Einige LSBTTIQ* Geflüchtete gehören zudem durch körperliche (Vor-) Erkrankungen zu der durch das Corona-Virus gefährdeten Risikogruppe. Insbesondere diejenigen Personen, die in Sammelunterkünften wohnen, sehen sich hier einer großen Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Die Wohnkonzepte solcher Unterkünfte begünstigen aufgrund ihrer gemeinschaftlichen Ausrichtung die Verbreitung des Virus SARS-CoV-2.
- Personen, die bereits vor der Allgemeinverfügung prekäre Lebensumstände hatten, sind von den derzeitigen Einschränkungen sogar noch härter getroffen. Auflagebedingte Benachteiligungen, etwa die Einschränkungen beim Zugang zur medizinischen Versorgung für Geduldete, entwickeln sich nun zu einem enormen Risikofaktor und können zu einer Gefahr für Leib und Leben werden.
Szeneangebote
- Die Schließungen von Restaurants, Bars, Clubs und anderen Räumen wirken sich auch auf LSBTTIQ* Unternehmer*innen, Arbeitnehmer*innen, Kulturschaffende, Künstler*innen und Selbstständige aus. Der dauerhafte Verlust von (kultureller) LSBTTIQ*-Infrastruktur wird allgemein befürchtet, so dass verschiedene Spenden- und Solidaritätsaktionen ins Leben gerufen werden, um Einnahmeausfälle teilweise zu kompensieren.
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RosaLinde Leipzig e.V. / Gerede E V Dresden / different people e.V. / TIAM e.V. / LSVD Sachsen / Aids-Hilfe Dresden e.V. / AIDS-Hilfe Westsachsen e.V. / AG LSBTI GEW Sachsen / Frauen Leben Vielfalt / *sowieso* Frauen für Frauen e.V. / Frauenbildungshaus Dresden e.V. / pro familia Sachsen / CSD Pirna e.V. / CSD Dresden e.V. / Landesarbeitsgemeinschaft Jungen- und Männerarbeit Sachsen e.V. / Landesarbeitsgemeinschaft Mädchen und junge Frauen in…