Ohnmacht, Krisen und Inflation. Perspektiven junger Menschen in Sachsen
Autor_innen: LAK Mobile Jugendarbeit Sachsen e.V.
Während auch für weite Teile der Mittelschicht unserer Gesellschaft die Angst vor Armut durch Inflation, Krieg und Energiekrise realer wird, hat sich die Situation für Menschen, die bereits von Armut betroffen sind, gravierend verschlechtert. Mit den folgenden Beispielen möchten wir Einblicke in die Lebenssituationen junger Menschen in Sachsen geben und Probleme aufzeigen, die für uns in der Mobilen Jugendarbeit oft nicht neu sind, sich aber in den letzten Monaten drastisch verschärft haben.
Damit mein 2-jähriges Kind genug zu Essen bekommt, verzichte ich selbst auf Essen und bin oft hungrig. Bei der Tafel wurde ich mehrmals wegen Überfüllung abgewiesen.“, Danilo, 25 Jahre
Menschen hungern! Auch wenn das für uns eine traurige Arbeitsrealität darstellt, müssen wir feststellen, dass uns im letzten halben Jahr immer mehr Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nach Essen fragen, weil sie Hunger leiden. Wir als Mobile Jugendarbeit versorgen immer mehr Menschen mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten, die sie oder ihre Familien sich nicht leisten können. Bereits 2021 waren rund 25% aller jungen Menschen unter 25 Jahren in Deutschland armutsgefährdet. (BAG KJS e.V., Monitor Jugendarmut in Deutschland 2022) Wir müssen entsprechend unserer alltäglichen Wahrnehmungen davon ausgehen, dass sich diese Zahl im letzten Jahr deutlich erhöht hat.
„Ich möchte eine Ausbildung als Krankenpflegerin machen, kann mir diese aber nicht ‚leisten‘, da das Ausbildungsgehalt nicht ausreicht, um eine Wohnung zu bezahlen. Deswegen jobbe ich derzeit als Lagerlogistikerin und Kassiererin.“, Alex, 17 Jahre
Noch immer folgen gesellschaftliche Diskussionen den Narrativen einer selbstverschuldeten Situation oder mangelnder Anstrengung, um Armut zu entkommen. Gleichzeitig werden Ausbildungsplätze nicht angenommen, da ihre Vergütung nicht ausreicht, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Armut wirkt sich auf das komplette Leben aus. Sie kann krank machen, zu Rückzug und Isolation führen, ist mit Scham besetzt und verhindert die Entwicklung von Lebensperspektiven. Gleichzeitig ist es in den letzten Jahren schwieriger geworden schnell und effektiv Hilfe zu bekommen. Der Zugang zu Behörden ist komplizierter geworden und Termine liegen oft erst weit in der Zukunft. Während die einen vielleicht länger auf die Zulassung ihres Autos warten müssen, warten die anderen monatelang auf die Bearbeitung lebenswichtiger Angelegenheiten.
„Um meine Bewerbungsgespräche und meine Termine bei der Schuldnerberatung, Suchtberatung und meiner Psychologin wahrzunehmen, kann ich mir ja nicht jedes Mal ein Ticket kaufen.“,
Erik, 22 Jahre
So wie Erik ergeht es vielen Menschen, mit denen wir arbeiten: Sie stehen vor der alltäglichen Entscheidung sich ein Ticket zu kaufen, was sie sich eigentlich nicht leisten können oder einen wichtigen Termin zu verpassen, der für die Verbesserung ihrer Lebenssituation notwendig ist. Häufig ist die einzige Lösung dann „schwarz“ zu fahren und hohe Bußgelder zu riskieren. Hierdurch ergeben sich wiederum neue Schulden, die, wenn sie nicht beglichen werden können, am Ende zu einer Freiheitsstrafe führen.
„Mit dem 9-Euro-Ticket konnte ich das erste Mal in meinem Leben nach Berlin fahren, das war total cool!“, Emely. 22 Jahre
Während der dreimonatigen Phase des 9-Euro-Tickets konnten wir wahrnehmen, wie viel unbeschwerter und auch schöner das Leben für die Menschen war, mit denen wir arbeiten. So war nicht nur der eben beschriebene Alltag leichter zu organisieren, auf einmal waren auch Reisen in andere Städte und zu Verwandten möglich. Der viel bemühte Begriff der „gesellschaftlichen Teilhabe“ wurde auf einmal zumindest für den Bereich der Mobilität realisiert. Das im Budget des Bürgergeldes nur 45,02 € für Mobilität vorgesehen sind, ist angesichts des kommenden 49-Euro-Tickets absurd.
„Ich werde seit Monaten von meinem Nachbarn terrorisiert und wurde vor kurzem von ihm mit einem Messer angegriffen. Ich möchte schon lange ausziehen, da ich mich in meiner Wohnung nicht mehr sicher fühle. Ich habe Angst rauszugehen und nach Hause zu kommen aber finde keine Wohnung, die vom Jobcenter genehmigt wird.“ Berit, 21 Jahre
In vielen Städten und Gemeinden Sachsens werden derzeit fast alle Wohnungen von den Jobcentern als „unangemessen teuer“ abgelehnt. Dies ist aktuell eine Folge der gestiegenen Nebenkosten, welche aber nur eine Zuspitzung der bereits zuvor kritischen Lage auf dem Wohnungsmarkt darstellt. Dabei nehmen wir sehr vielfältige, oft verborgene Auswirkungen wahr. Bei Berit ist es Angst und Unsicherheit in der eigenen Wohnung, andere junge Menschen müssen in schwierigen Abhängigkeitsverhältnissen bei ihren Ex-Partner*innen oder Eltern wohnen bleiben, obwohl sie sich dort nicht wohlfühlen. Auch unzumutbare Zustände von Mietwohnungen müssen oft hingenommen werden, da die Alternativen fehlen oder nicht finanzierbar sind. Für junge Erwachsene bedeutet dies konkret, dass sich der Ablöseprozess vom Elternhaus verschiebt und die Verselbständigung schwieriger wird.
„In der Notschlafstelle gibt es immer nur Stress, da schlafe ich lieber auf der Straße. Hier hab ich meine Ruhe.“, Frederik, 24 Jahre
Perspektivisch ist zu befürchten, dass, während viele Menschen in prekären Wohnsituationen verbleiben müssen, Wohnungs- und Obdachlosigkeit weiter zunehmen werden. Die Zustände in vorhandenen Notunterkünften sind häufig geprägt von mangelnder Hygiene, nicht vorhandener Privatsphäre und vollen Mehrbettzimmern. Konflikte, Gewalt und Übergriffe gehören für viele Nutzer*innen zum Alltag. Da die Unterkünfte tagsüber geschlossen werden, müssen auch kranke Menschen bei Minusgraden das Haus verlassen. Oft entscheiden sich junge Menschen, mit denen wir arbeiten daher für das Leben auf der Straße oder suchen riskante Unterbringungsmöglichkeiten bei Fremden.
„Ich habe auch keine Ahnung, was ich noch tun soll. Alle sagen mir immer, es gibt keine freien Plätze. Ich habe keine Kraft mehr weiter zu suchen und dann doch nur zu warten.“, Kevin, 18 Jahre
Als Mobile Jugendarbeit suchen wir junge Menschen auf, die von anderen Angeboten nicht erreicht werden. In unserer alltäglichen Arbeit nehmen wir eine Zunahme psychischer Problemlagen wahr. Wir begleiten junge Menschen und stabilisieren sie in Krisen, wobei wir immer öfter an unsere Grenzen stoßen. Die notwendige Vermittlungsarbeit läuft vermehrt ins Leere, da für akute Probleme weder kurz- noch mittelfristig Chancen auf spezialisierte Therapie-, Beratungs- oder Hilfsangebote bestehen. Oft nehmen wir dann ein Gefühl der Ohnmacht bei den Betroffenen wahr, da ihnen die Hoffnung fehlt, etwas an ihrer Situation ändern zu können.
Wir fordern die Verantwortlichen in der Politik dazu auf, endlich die bereits von vielen anderen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen formulierten Lösungsvorschläge umzusetzen. Gleichzeitig sind wir als Gesellschaft gefordert, weiterhin solidarisch mit unseren Mitmenschen zu sein und die beschriebenen Probleme nicht als Normalzustand zu akzeptieren.
Eine Gesellschaft ohne Armut, Hunger, Wohnungslosigkeit und Ausgrenzung ist möglich. Wir als Mobile Jugendarbeit werden uns weiterhin dafür einsetzen und an gesellschaftlichen Veränderungen arbeiten. Für Anregungen, Gespräche und Diskussionen stehen wir jederzeit zur Verfügung.
Mobile Jugendarbeit unterstützt junge Menschen und setzt sich aktiv für eine gerechte Gesellschaft ein. Die Streetworker*innen arbeiten aufsuchend, mit Gruppen und einzelnen Menschen sowie mit unterschiedlichen Akteur*innen in den Gemeinwesen, um die Lebensbedingungen junger Menschen zu verbessern.
*Alle Namen wurden geändert.