Offener Brief zur sächsischen Abschiebepraxis
Autor_innen: AG „Geflüchtetensozialarbeit & sächsische Abschiebepraxen“
Positionierung der AG „Geflüchtetensozialarbeit & sächsische Abschiebepraxen“
Am 28.07.1951 wurde die Genfer Flüchtlingskonvention, eines der ersten Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen, verabschiedet, die in der Bundesrepublik Deutschland nach Unterzeichnung am 22. April 1954 in Kraft trat. Mit Empörung und großer Sorge stellen wir in Anbetracht dessen die stetigen Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts auf regionaler und überregionaler Ebene fest. Diese stehen in enger Verbindung mit einem zunehmenden Fokus auf Abschottungs- und Abschiebepolitiken. Letztere sind der Anlass für diese öffentliche Positionierung. Die Abschiebepraxen sächsischer Behörden sind rigide und inhuman! Willkürliche und das Recht beugende Abschiebungen nehmen in den letzten Jahren massiv zu. Eine umfassende Chronologie für die Jahre 2016 bis 2019 bietet in diesem Zusammenhang u.a. das Monitoring des Sächsischen Flüchtlingsrat e.V. (vgl. Querfeld Sonderausgabe: https://www.saechsischer-fluechtlingsrat.de/de/2020/06/01/querfeld-sonderausgabe-zu-abschiebungen-blick-hinein-werfen/).
Darüber hinaus sollte jedoch allein das Sichtbarmachen der individuellen Erfahrungen dreier betroffener Familien der jüngsten Abschiebungen nach Georgien deutlich machen, welch massive Eingriffe sächsische Abschiebepolitiken darstellen: • Familie I. aus Pirna lebt seit über acht Jahren in Deutschland. Die sieben Kinder sind zwischen drei und elf Jahren alt. Die älteste, Lika, geht in die fünfte Klasse des Gymnasiums. Beide Eltern sind berufstätig. Der Vater arbeitet, hat eine unbefristete Vollzeitstelle als Pfleger. Die Mutter arbeitet stundenweise als Pflege- und Haushaltshilfe und Dolmetscherin. Die Familie gilt als „bestens integriert“, was auch der aktuelle Widerstand und der nicht nachlassende öffentliche Druck der Nachbar*innen und Freund*innen zeigen. Die Familie galt seit Oktober 2020 als vollziehbar ausreisepflichtig. Sie stellte daraufhin jedoch unmittelbar einen Antrag auf einen Aufenthalt gem. § 25b AufenthG, da sie die hohen Anforderungen erfüllte. Die Ausländerbehörde Pirna schrieb im März, sie gedenke diesen abzulehnen. Aus dem Schreiben ging allerdings klar hervor, dass die eingereichten Unterlagen zur aktuellen Arbeits- und Einkommenssituation der Familie nicht oder falsch berücksichtigt wurden. Die Anwältin der Familie stellte vor diesem Hintergrund nochmals klar: Im Vertrauen auf ein faires rechtliches Verfahren fühlte sich die Familie sicher. Die Abschiebung erfolgte völlig überraschend noch bevor der Antrag von der Ausländerbehörde entschieden wurde. Sie geschah mitten in der Nacht, was klar rechtswidrig ist (§ 58 Abs. 7 AufenthG, grundlegend: Art 2 und 13 GG sowie die UN-Kinderrechtskonvention). Erschwerend hinzu kommt, dass sie erfolgte, obwohl die Härtefallkommission in einem zulässigen Verfahren am Vormittag nach Bekanntwerden der Abholung der Familie entschieden hatte, den Härtefallantrag der Familie anzunehmen. Damit einher ging ein sofortiger Abschiebestopp, der in den 10 Minuten zwischen Entscheidung und Abflug hätte umgesetzt werden müssen und können, insofern das Innenministerium den entsprechenden politischen Willen gezeigt hätte. Die Initiative "Bringbackourneighbours" setzt sich seither dafür ein, dass die Familie so schnell wie möglich legal zurückreisen kann. In einer Petition wurden über 15.000 Stimmen gesammelt, es gibt viel mediale Aufmerksamkeit, Kundgebungen und einige finanzielle Unterstützung. • Familie Z. lebt seit zwei Jahren in Radebeul. Trotz der vergleichsweisen kurzen Aufenthaltsdauer sind sie gut integriert. Der Familienvater arbeitet seit November als Bauhelfer in Vollzeit, die Mutter hat ein Jobangebot als Reinigungskraft. Beide Eltern verfügen über andere berufliche Ausbildungen (Polizist, Journalistin), waren aber bereit, jeden Job anzunehmen, um ihren Lebensunterhalt eigenständig finanzieren zu können. Der Sohn Gigi, 14 Jahre alt, spielt als Nachwuchstalent in der U15-Mannschaft bei Dynamo Dresden. Hier stand er fest im Kader und hatte einen Vertrag in Aussicht. Er spricht gut Deutsch und ist gut in der Schule. Seine Schwester wurde in Radebeul geboren. Sie hatte ab Juli einen Kitaplatz in Aussicht. Auch hier kam die Polizei mitten in der Nacht, um die Abschiebung zu vollziehen. Der Familie blieb kaum eine Stunde, um zu packen. Vieles mussten sie zurücklassen. • Familie P. aus Meißen lebt seit sechs Jahren in Deutschland, die fünf Kinder sind zwischen zwei und 13 Jahre alt. Die beiden älteren Mädchen waren Klassenbeste. Alle Kinder waren gut in Kitas, Schulen und Freizeiteinrichtungen integriert und hatten eine enge "Oma- und Opa-Beziehung“ zu einem älteren Ehepaar aus der Nachbar*innenschaft. Mit ihnen fuhr die Familie auch gemeinsam in den Urlaub. Die Abschiebung der Familie verlief dramatisch, wie auch aus Sprachnachrichten der ältesten Tochter hervorgeht. Der Vater wurde von der Familie getrennt und kam zwei Wochen in Abschiebungshaft. Er wurde am 10.06.21, zusammen mit den zuvor erwähnten Familien, abgeschoben. Die Mutter landete mit den fünf Kindern und ohne ihren Ehepartner bereits am 26.05.2021 auf dem Flughaften Tiflis. Zuvor wurden ihr Geld und Handy abgenommen und bis zuletzt nicht wieder ausgehändigt. Auch zu Familie P. kam die Polizei rechtswidrig in der Nacht. Ein Hilferuf der Tochter ereilte Frau H., die "Oma", gegen 4:30 Uhr morgens.
Wie die Erfahrungen der drei Familien deutlich machen, sind Abschiebungen ein gewaltvoller Akt. Zudem sind sie darüber hinaus klar als das zu benennen, was sie außerdem sind: ein Element staatlichen Gewalthandelns, dessen Legitimation allein auf strukturell und institutionell verankertem Rassismus fußt.
Wir wenden uns deshalb entschieden gegen alle Abschiebepolitiken und -praxen, welche Biographien brechen, Integration verhindern, Familien zerreißen und Menschen Gefahren für Leib und Leben und existenzieller Not aussetzen!
Der Durchführung von Abschiebungen um jeden Preis widersetzen wir uns mit demokratischen Mitteln.
Wir positionieren uns zudem gegen die diskursive und faktische Kriminalisierung von Flucht und Migration und die systematische Aushöhlung des Rechts auf Asyl. Wir sind dagegen, dass vermeintlich formulierte Forderungen aus der Bevölkerung nach einem Erstarken der Nationalstaaten vor allem durch entmenschlichende rassistische Diskurse und Praktiken auf dem Rücken von geflüchteten Menschen ausgetragen werden.
Darüber hinaus verurteilen wir bilaterale Abschiebeabkommen und die desaströsen Bedingungen für geflüchtete Menschen in den Dublin- und Transitstaaten entlang der Fluchtrouten.
Wir sind für das Recht zu Gehen und zu Bleiben – für das Grundrecht auf Freizügigkeit und die damit verbundene Notwendigkeit der Schaffung sicherer Zugangswege für Menschen auf der Flucht gemäß New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migration der UNO vom 19. September 2016.
All dies liegt nicht nur in unseren grundlegenden, menschlichen Überzeugungen, sondern auch in unseren berufsethischen Verpflichtungen begründet. Als Geflüchtetensozialarbeiter*innen sind wir dem Schutz grundlegender Menschenrechte verpflichtet. So ist es unserem professionellen Auftrag immanent, überall dort kritisch zu intervenieren, wo die grundlegenden menschenrechtlichen Ansprüche unserer Klient*innen verletzt werden.
Von den politischen und staatlich verantwortlichen Akteur*innen fordern wir deshalb:
1. Die Abschiebepolitiken des Innenministeriums von Sachsen müssen sich sofort ändern! Vor allem langjährig hier lebende Menschen, Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen müssen umgehend bedingungslose Aufenthaltsmöglichkeiten erhalten. 2. Abschiebungen in Kriegsregionen wie Afghanistan sind unter keinen Umständen hinnehmbar. Eine Mitwirkung sächsischer Behörden an diesen gilt es zu unterlassen. 3. Der Schutz der Familie ist ein unverletzliches grundrechtliches Gut. Familientrennungen durch und während Abschiebungen dürfen deshalb unter keinen Umständen stattfinden. 4. Wir fordern die Achtung der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern und deshalb den Verzicht auf deren Abschiebungen. 5. Sollten dennoch Abschiebungen von Familien mit Kindern beabsichtigt werden, so sind zwingend Jugendämter und weitere relevanten Akteur*innen, welche mit dem Schutz des Kindeswohls betraut sind, im Vorfeld einzubeziehen und anzuhören 6. § 58 Abs. 7 AufenthG gilt auch für sächsische Behörden - Abschiebungen in der Nacht sind deshalb zu unterbinden. 7. Behörden unterliegen der Beratungs- und Unterstützungspflicht zu Aufenthaltsmöglichkeiten bei guter und nachhaltiger Integration. Antragsverfahren für Aufenthaltstitel wegen guter und nachhaltiger Integration müssen künftig aufschiebende Wirkung für den Vollzug von Abschiebungen haben. 8. Die Bewältigung des Alltags unter der permanenten Angst vor einer möglichen Abschiebung stellt eine unzumutbare, psychosoziale Belastung dar. Menschen im Duldungsstatus leben oft jahrelang mit dieser omnipräsenten, existenziellen Bedrohung. Der tatsächliche, überraschende Vollzug einer Abschiebung (nach oft jahrelangem Aufenthalt) birgt traumatische Potenziale für Betroffene. Deshalb bedarf es in jedem Fall einer (erneuten) behördlichen Vorankündigung, insofern der konkrete Vollzug einer Abschiebung geplant ist. 9. Die Institutionen von Abschiebehaft und des Ausreisegewahrsam lehnen wir kategorisch ab. 10. Die Einrichtung einer Abschiebebeobachtung an sächsischen Flughäfen ist zu gewährleisten. 11. Das politische Gremium der sächsischen Härtefallkommission und dessen Entscheidungen sind anzuerkennen und umzusetzen. 12. Asylsuchende Menschen haben einen Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe. Zugänge zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, sowie zu Sprachprogrammen sind elementar, um diese zu realisieren.
Zusammen mit den Geflüchteten verurteilen wir Gewalt, Krieg und Terror, egal wo sie stattfinden. Wir brauchen eine Politik der Solidarität – auch und gerade mit geflüchteten Menschen. Eingedenk zigtausend ziviler Kriegsopfer, der Toten und Verletzten von Terroranschlägen und der tausenden Menschen, für welche ihre Flucht zur Todesfalle wurde, ist es Zeit zu handeln - in Verantwortung und für Mitmenschlichkeit. Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft „Geflüchtetensozialarbeit & sächsische Abschiebepraxen“
Weiterführende Informationen
https://weact.campact.de/petitions/bring-back-our-neighbours https://www.abschiebehaftkontaktgruppe.de/deutsch/haftanstalt-dresden/ https://www.saechsischer-fluechtlingsrat.de/de/2021/07/01/gemeinsame-pressemitteilung-nach-georgien-abschiebungen-reform-der-saechsischen-abschiebepraxis-jetzt/ https://www.saechsischer-fluechtlingsrat.de/de/informieren/dossier-abschiebung/ https://so-nicht-bestellt.podigee.io/ stellvertretender Kontakt: Magdalena Engel (magdalena.r.engel@posteo.de)
Über die AG
Die AG „Geflüchtetensozialarbeit & sächsische Abschiebepraxen“ ist eine Initiative von Fachkräften der Geflüchteten- und Migrationssozialarbeit in Sachsen, welche sich im Frühjahr 2021 gründete. Wir sind Engagierte aus verschiedenen Arbeitskontexten und den unterschiedlichsten Regionen Sachsens. Unsere Arbeitsgemeinschaft schafft einen geschützten Raum für überregionalen, kollegialen Austausch zu den sächsischen Abschiebepraxen. Durch Vernetzung und kritische (Selbst-)Reflexion zielen wir darauf ab, professionelle Handlungsstrategien mit der „Blackbox Abschiebung“ zu stärken und (weiter) zu entwickeln.