Mir reicht’s Bürger. Eine Analyse der Montagsdemonstrationen in Chemnitz und Gera im Winter 2022/2023
Autor_innen: Paulina Fröhlich, Dr. Florian Ranft, Erik Vollmann für Das Progressive Zentrum
Zusammenfassung
Politische Lösungen werden keiner Partei richtig zugetraut, Antiamerikanismus und Nationalismus sind weit verbreitet: Die qualitative Studie „Mir reicht’s Bürger“ des Progressiven Zentrums und der Bertelsmann Stiftung hat Teilnehmende der von Rechts organisierten „Montagsdemonstrationen“ in Ostdeutschland nach ihrer Sicht der Dinge gefragt. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei nicht auf den Organisator:innen, sondern den „Mitlaufenden“, ihren Protest-Motiven und Erwartungen an die Politik. Sie eint vor allem ein Unmut über die Regierungspolitik, der letztlich auf einem fundamental anderen Deutschlandbild und Demokratieverständnis als dem der Mehrheitsgesellschaft basiert.
Ergebnisse
Das Deutschlandbild der Befragten ist oft nationalistisch geprägt und verlangt einen „souveränen“ (im Sinne von gänzlich auf sich selbst orientiert) handelnden Staat. Demokratie soll möglichst direkt sein, jegliche repräsentative Institutionen und Prozesse stehen dem im Wege. Viele Befragte sehen sich als die „wahren“ Demokrat:innen. Verantwortung trage Deutschland zuallererst für das Wohlergehen der Deutschen, nicht für das der Ukrainer:innen oder anderer Ausländer:innen. Aus dieser Perspektive kann nur Widerspruch zur geltenden Außen-, Wirtschafts-, Klima-, Innen- oder Sozialpolitik entstehen.
Teilnahmemotivation
Die meisten Protestierenden sind geübte Montagsdemonstrant:innen. Mehr als 55 % der Befragten gehen seit Jahren regelmäßig montags auf die Straße. Dabei nennt kaum eine:r die steigenden Energiekosten oder Inflation als einzigen Grund, stattdessen werden Kritik am deutschen Umgang mit dem Ukrainekrieg, Unzufriedenheit mit der Coronapolitik und allgemeine Regierungskritik am häufigsten genannt. In den Interviews tritt ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber den politischen Akteur:innen, Antiamerikanismus und Nationalismus zutage.
Zukunft ist Wirtschaft – und die ist in Gefahr
Die allgemeine Sorge um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist außerordentlich hoch: So meinen die Interviewten, Sanktionen gegen Russland träfen in erster Linie die deutsche Wirtschaft und die Sorgen des Mittelstands (z.B. hohe Inflation) würden übergangen. Für viele Befragte sind die Grünen unmittelbar verantwortlich für die schlechten wirtschaftlichen Aussichten. Klimapolitische Maßnahmen wie der schnelle Umstieg auf erneuerbare Energie würden den Industriestandort Deutschland gefährden. Dabei stößt das Thema Umweltschutz im Allgemeinen nicht so eindeutig auf Ablehnung.
Weidel und Wagenknecht als Paar für die Krise
Nach Akteur:innen gefragt, denen die Demonstrierenden Lösungen und Antworten auf die aktuellen Herausforderungen zutrauen, werden immer wieder Alice Weidel, Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, und Sahra Wagenknecht, Politikerin der Partei Die Linke genannt, sowohl einzeln als auch sehr oft in Kombination.
Auffällig ist außerdem, dass trotz der Akzeptanz zahlreicher Positionen und Narrativen der rechtspopulistischen AfD der Partei selbst im Allgemeinen nur bedingt eine Lösungskompetenz zugeschrieben wird. Die Grünen sind Kristallisationsfiguren für den Unmut der Befragten – ihnen wird überwiegend Kompetenz zum Regieren abgesprochen. Auffällig im Vergleich zur Präsenz der Grünen in den Interviews ist die Ignoranz gegenüber Kanzler Olaf Scholz und den beiden Regierungsparteien SPD und FDP.
Vorgehen
Wir haben mit zwei Forschungsteams der TU Dresden auf den sogenannten Montagsdemonstrationen in Chemnitz und Gera knapp 200 Teilnehmende befragt. Die Interviews fanden von November 2022 bis Januar 2023 an insgesamt sechs Montagen statt und richteten sich nicht an die Organisator:innen, sondern „Mitlaufende“. Für unsere Interviews nutzten wir einen Leitfaden, der neben Fragen zum Wohnort und der Häufigkeit der Demonstrationsteilnahme vor allem offene Fragen enthielt.
Handlungsempfehlungen
Politische Bildung: Für ein liberales Demokratieverständnis werben
Während zum demokratischen Wesenskern der Bundesrepublik Reibung und Gegenrede, Aushandlung und Kompromiss, Zweifel und Abwägung, sowie die Beachtung von Minderheiten und Interessengruppen gehört, sind all das in der Lesart der Demonstrant:innen Hemmnisse für eine „wahre Demokratie“.
Eine politische Bildung, die für die pluralistischen Werte einer offenen Gesellschaft wirbt und ihre Vorteile praktisch erläutert, ist daher an vielen Stellen gefordert: in der Schule, in der Ausbildung, am Arbeitsplatz, in den Medien, im Bürgergespräch. Darüber hinaus können auch langfristige, demokratiefördernde Institutionen, wie das Forum Recht, oder Vorhaben in den Regionen, die durch das neue Demokratiefördergesetz gestärkt werden, ihren Beitrag leisten.
Auf den Grund gehen: Was, wann, warum Resonanz findet
Spricht man mit Demonstrant:innen, ist davon auszugehen, dass sie kritisch mit Politik und Regierung ins Gericht gehen. Jedoch werden die Entlastungspakete der Regierung im Umfang von immerhin 135 Milliarden insgesamt überraschend selten thematisiert. Es würde sich lohnen, dies genauer zu analysieren: Welche Maßnahmen finden keine oder mehr Resonanz? Und warum ist das so? Gegebenenfalls könnte auch hierbei ein lokaler Ansatz helfen, um Protestierende und Politiker:innen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene mithilfe von neuen Beteiligungsformaten in den Austausch zu bringen.
Fokus auf die Machbarkeit der sozial-ökologischen Transformation richten
Während die Grünen sowohl als Partei als auch als kulturalisierte Personengruppe das zentrale Feindbild im Inneren darstellen, stößt ihr Kernthema, der Umweltschutz, nicht so eindeutig auf Ablehnung. Besonders Parteien und Politiker:innen, die nicht per se und umfänglich als Feindbild angesehen werden, sollten ihren Zugang nutzen, um die Machbarkeit von sozialökologischen Maßnahmen im Zuge der Transformationspolitik zu erläutern. Ihre Erklärungen der Notwendigkeit der Transformation oder Vorschläge zu grundlegenden Möglichkeiten würden nicht auf die vielfach geäußerte Skepsis treffen. Vielversprechend wäre aus unserer Sicht auch, insbesondere die Frage des „wie“ vor dem Hintergrund der ostdeutschen Erfahrungen mit Transformationsprozessen in den Prozess des Aufbaus des Zukunftszentrums Deutsche Einheit mitzudenken.