Eindrücke aus Sebnitz: “Abi*, die Verrückten sind aus der Anstalt ausgebrochen!”

Autor_innen: Osman Oğuz (Öffentlichkeitsarbeit des Sächsischen Flüchtlingsrats) via Sächsischer Flüchtlingsrat e.V.

Sebnitz, die Kreisstadt des Landkreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, erregte zuletzt Aufsehen, als das Wohnheim für Geflüchtete Ziel eines rassistischen/faschistischen Angriffs wurde. Knapp einen Monat später, am Montag, den 14. August 2023, fand auf dem Marktplatz eine Demonstration mit faschistischen/hetzerischen Parolen statt – unmittelbar nach dem Angriff und fast die einzige öffentlichkeitswirksame Reaktion auf die Schlagzeilen. Unsere Pressestelle war vor Ort.

* Abi: „älterer Bruder“ im Türkischen

Sebnitz: Eine Idylle mit knapp 10 Tausend Einwohner*innen inmitten von der Sächsischen und Böhmischen Schweiz mit einem Aktivwegesystem für Wanderfreund*innen, eine Wellnessoase mit zig Entspannungsmöglichkeiten und ein Ort, an dem insbesondere Familien willkommen sind, wie der Oberbürgermeister fröhlich ankündigt. Ein Charakteristikum scheint bei diesem Blick von innen jedoch nicht gern gesehen oder vielleicht sogar verdrängt zu werden: eine seit langem bekannte Hochburg neonazistischer Aktivitäten.

Die Kreisstadt des Landkreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge erregte zuletzt Aufsehen, als das Wohnheim für Geflüchtete Ziel eines rassistischen/faschistischen Angriffs wurde. Knapp einen Monat später, am Montag, den 14. August 2023, fand auf dem Marktplatz eine Demonstration mit faschistischen/hetzerischen Parolen statt – unmittelbar nach dem Angriff und fast die einzige öffentlichkeitswirksame Reaktion auf die Schlagzeilen.

Mehr als 300 Menschen

Aufgerufen zu der Demonstration hatten die „Freien Sachsen“ unter der Führung von Max Schreiber, der auch als Mitglied von „Die Heimat“ (ehemals NPD) und durch zahlreiche neonazistische Aktivitäten bekannt ist. Auf dem Marktplatz versammeln sich mehr als 300 Personen (nach Polizeiangaben etwa 450), darunter stadtbekannte Neonazis in einschlägiger Kleidung. Hinsichtlich der Vertretung der verschiedenen Generationen erscheint die Menge jedoch eher durchschnittlich. Sie stellen sich hinter Transparente wie “Asylflut stoppen!”, “Willkommenskultur für die Zerstörung unseres Sozialsystems”, “Grüne an die Ostfront”, “Ampel in den Knast” oder “Islam, nein danke”.

Im Aufruf zur Demonstration behauptete das “Team Schreiber”, der Überfall auf die Geflüchteten sei erfunden, um “von den tatsächlichen Übergriffen durch Zuwanderer” abzulenken. Wären nicht so viele Menschen dem Aufruf gefolgt, könnte man diese wirre Geschichte ja ignorieren, aber sie scheint in Sebnitz einige Anhänger*innen gefunden zu haben.

In der Unterkunft der Geflüchteten herrscht eine besorgte und ängstliche Stimmung – für sie scheint die Gefahr eine bittere Realität zu sein. Die Bewohner*innen, die wir im Vorfeld der Demonstration im Hof der Unterkunft trafen, erzählen von einem erneuten Angriffsversuch am Wochenende: Sie hätten Geräusche gehört und die Polizei benachrichtigt, doch als diese eintraf, seien die Angreifende schon weg gewesen.

Das Wohnheim der Geflüchteten in Sebnitz wurde am 22. Juli 2023 Ziel eines rassistischen Angriffs von vier Neonazis.

“Das haben sie in Solingen gemacht”

Die Geflüchtete vor der Unterkunft sind sich eher sicher, dass ihre Situation bereits allgemein bekannt ist, weil sie so offensichtlich erscheint. Auf unsere Fragen nach den Schwierigkeiten in Sebnitz antworten sie immer wieder: „Das wissen Sie doch!” Ein Nachbar mit Migrationsgeschichte, der in Deutschland geboren wurde und daher die rassistische Gefahr besser kennt, warnt einen Geflüchteten, der erst vor 10 Monaten angekommen ist, vor einem möglichen Brandanschlag auf die Unterkunft. Der Geflüchtete zeigt sich überrascht und fragt in aller Naivität: “Würden die das wirklich tun?” Der Nachbar antwortet in ernüchterndem Ton: „Das haben sie in Solingen gemacht.”

Aufgrund der Bedrohungslage haben sich die Familien bereits entschlossen, die Stadt zu verlassen und Umverteilungsanträge gestellt. Doch so einfach ist es mit ihrem Aufenthaltsstatus nicht. Einer erzählt, dass er bald eine Ausbildung beginnt und froh ist, Sebnitz endlich verlassen zu können. Denn in der Stadt, in der sich Geflüchtete nicht einmal mehr auf der Straße sicher fühlen, will er nicht mehr leben.

Noch bevor wir über die Demonstration sprechen, zu der wir gekommen sind, sagt ein Bewohner der Unterkunft: “Heute ist es besonders gefährlich!” Er weiß davon, weil am Tag zuvor Beamt*innen vom Landratsamt die Unterkunft besucht und die Bewohner*innen davor gewarnt haben. Sie sollen vorsichtig sein und lieber nicht vor die Tür gehen. In der Unterkunft sind viele Kinder und sie bekommen die Stimmung natürlich auch mit. Als die Demonstration immer lauter wird, ruft uns ein 10-jähriges Mädchen aus dem Fenster der Unterkunft lachend und auf Türkisch zu: “Abi, die Verrückten sind aus der Anstalt ausgebrochen!”

Ganz vorne weht eine AfD-Fahne

Der Anmelder der Demonstration, Max Schreiber, fällt nicht zum ersten Mal durch rassistische/faschistische Aktivitäten auf. Bei einer seiner letzten Demonstrationen im Dresdner Stadtteil Niedersedlitz unter der Parole “Wir wollen kein Asylantenheim” verteilte er Pfefferspray an Passant*innen, damit diese sich vor den Geflüchteten schützen sollten. Die Polizei schritt nicht ein, obwohl Pfefferspray bei Versammlungen verboten ist. Bei seiner Rede auf einer Kundgebung im Dresdner Stadtteil Gorbitz drohte Schreiber noch mit Selbstjustiz und bezeichnete Geflüchtete als “Schmutz”, den sie irgendwann “selbst aus dem Land fegen” würden. Zu Beginn der Demonstration in Sebnitz weist er auf eine mögliche Gegendemonstration hin und sagt: “Die lassen wir natürlich links liegen und tun denen nichts. Irgendwann kommt die Zeit dafür, aber jetzt noch nicht!” Eine klare Ansage, die auf dem Marktplatz niemanden zu empören scheint – auch die Polizei nicht. Ganz vorne weht noch eine AfD-Fahne und wird freundlich durchs Mikrofon begrüßt. Bald ertönen “Deutschland den Deutschen”-Rufe – vor allem von jungen Leuten, die einen nicht geringen Teil der Demonstration ausmachen und ganz vorne die Transpis tragen.

Polizei vor Ort – mit kleinstem Aufgebot

Auf dem Marktplatz in Sebnitz sind trotz der Gefahrenlage, die ja anscheinend auch dem Landratsamt klar ist, 20-30 Polizist*innen zu sehen. Sie wirken sehr entspannt und führen hier und da Gespräche mit den Organisator*innen. Ein Beobachter am Rande der Demonstration seufzt entsetzt: “Als hätten die sich vor kurzem im Stadion oder in der Kneipe getroffen“. Ist dieser Verdacht berechtigt? Das ist natürlich schwer zu beantworten, aber Fakt ist: Vor der Unterkunft der Geflüchteten ist kein Polizeiauto zu sehen. Zudem entscheidet sich die sächsische Polizei trotz des allgemein bekannten neonazistischen Charakters der Demonstration und der berechtigten Sicherheitsbedenken der Geflüchteten für ein Kleinstaufgebot. Drei Polizisten kommen auf uns zu und versuchen uns klar zu machen, dass wir Gefahr laufen, angegriffen zu werden, offensichtlich wegen unserer Hautfarbe, denn andere relevante Merkmale, an denen wir auffallen könnten, gibt es nicht. “Dafür sind sie doch da”, sagen wir etwas verzweifelt. “Ja, natürlich“, antwortet der Polizist, aber er wolle nur auf die Gefahr hinweisen.

Rassistische Hetze quer durch die Idylle

Zeitgleich findet in der Kirche ein Friedensgebet der Zivilgesellschaft statt, zu dem Pfarrer Sebastian Kreß, Oberbürgermeister Ronald Kretzschmar und die Aktion Zivilcourage Pirna e.V. eingeladen haben. Im Vorfeld gab es einen Aufruf in den sozialen Netzwerken: “Heute zeigt die Sebnitzer Zivilgesellschaft Gesicht!”. In der Kirche sind knapp 50 Menschen, die mit der rassistischen Hetze nicht einverstanden sind. Dennoch begeben sie sich nicht in die Hör- und Sichtweite der Demonstration. Als die rassistische Hetze durch die Straßen der Stadt zieht, ist das Friedensgebet bereits beendet und die Kirchentüren verschlossen. Außer rassistischen Parolen ist in Sebnitz nichts zu sehen und zu hören – oder doch: Noch sieht man die mit bunten Blumen geschmückten idyllischen Ecken, die den Bevölkerungsschwund nicht aufhalten können.

Auf der Hinfahrt meinte der Kollege, der sowohl das Bundesland als auch die demokratiefeindlichen Strukturen gut kennt, er erwarte (oder eher erhoffe) eine eher marginale Demonstration, da die wirren Aussagen von Schreiber doch nicht anschlussfähig sein könnten. (An anderen Orten hat er in der Stadtbevölkerung tatsächlich keinen solchen Anschluss gefunden.) Etwas ernüchtert machen wir uns auf den Rückweg und versuchen ganz vorsichtig, den wunderschönen Sonnenuntergang vor der Felskulisse der Sächsischen Schweiz zu genießen. Diese Demonstration war nur der Auftakt, wie der Kollege vermutet. In der Telegram-Gruppe gratulieren sich die Organisator*innen und verabschieden sich bis zum nächsten Mal. Klar ist, dass sie den Marktplatz wieder füllen wollen und klar ist auch, dass sie das Zusammenleben in der Stadt bereits vergiftet haben. “Irgendetwas muss passieren”, sind wir uns einig, aber was genau? Eine Frage, die immer noch auf eine Antwort wartet, die funktioniert.

Aus dem Auto: Als wir in Dresden ankamen, trafen wir noch auf die Demonstration von „Dresden Vereint“ gegen „irgendwas“ und Hauptsache mit völkisch/nationalistischen Parolen.

Weitere Informationen hier

Sächsischer Flüchtlingsrat e.V.

Der Sächsische Flüchtlingsrat e. V. engagiert sich seit 1991 für den Schutz geflüchteter Menschen und für menschenwürdige Unterbringungsbedingungen in Sachsen. Er ergreift Partei für die schutzwürdigen Interessen von Geflüchteten und sichert die öffentliche Kontrolle bei der Umsetzung des Asylverfahrens- sowie des Asylbewerberleistungsgesetzes in Sachsen. Weitere Aufgabenbereiche liegen in der Dokumentation und Veröffentlichung von Menschenrechtsverstößen in diesem Bereich. Du findest unsere Arbeit wichtig? Unterstütze uns jetzt mit einer Spende!

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