Das Ticket für die Abschiebung ist schon gebucht

Pressemitteilung des Dorfs der Jugend vom 28.02.2020

Dieser Mann ist der schlimmste Alptraum für alle Innenminister. Jung, männlich, muslimisch, nordafrikanisch. Ein Nafri ohne Asylgrund. Eingereist aus einem sicheren Drittstaat. Mit falschem Namen. Ein Betrüger und Asyltourist.

Dieser Mann ist der perfekte Flüchtling. Jung, männlich, muslimisch, nordafrikanisch. Ein bezauberndes Lächeln, zum Zopf gebundene Haare, offenes Wesen. Immer engagiert, hilfsbereit und für andere da.

Sein Name ist Houssam. Er ist 35 Jahre alt und kommt aus Algerien. Seit 2017 lebt er in Deutschland. Er hat vorher in der Schweiz Asyl beantragt und wurde nach seiner Ablehnung von den Schweizer Behörden für 18 Monate in „Ausschaffungshaft“ gesteckt. Man könnte sagen, Houssam ist knasterfahren. Da eine Abschiebung nicht möglich war, ist er von der Schweiz nach Deutschland gegangen.

Hier hat er alle Stufen eines Flüchtlingslebens durchlaufen: bürokratische Verfahren, Deutschkurse, Freunde, Ehrenamt, Arbeit und Familie. Ein perfekter Fall von Integration. Houssam ist jemand, den Initiativen, Kommunen und Minister gern mit Preisen auszeichnen und als Vorbild für andere Migranten nehmen würden. Wenn da nicht die Sache mit dem abgelehnten Asylantrag wäre.

„Ich sitze 500 Kilometer entfernt und heule mir nur Rotz und Wasser aus der Seele“, sagt Belinda, Houssams Frau. Sie hat am Freitagmorgen davon erfahren, dass die Polizei ihren Mann abgeholt hat.

„Er hat mir ein Foto von sich aus der Polizeiwache geschickt, das hat schon gereicht. Jetzt sitze ich 500 Kilometer entfernt und heule mir Rotz und Wasser aus der Seele.“

Ehefrau Belinda

Die beiden kennen sich schon seit 2 Jahren. Vor über einem Jahr haben sie sich religiös trauen lassen und vor drei Monaten standesamtlich geheiratet. Die Eheschließung war kompliziert und langwierig. Unendlich viele Dokumente mussten besorgt, übersetzt und beglaubigt werden. Von Anfang an hatte sie Angst um ihren Mann. Dann endlich nach der Trauung im Standesamt Mannheim, konnten beide Hoffnung schöpfen, dass sie doch zusammen in Deutschland leben können.

„Houssam darf ja nicht umziehen, weil er eine Duldung hat. Ich habe tausendmal bei der Ausländerbehörde angerufen und er hat alle möglichen Anträge gestellt, aber wir haben bis heute keine Antwort bekommen. Nichts wurde weitergeleitet. Das ist echt der größte Drecksladen“.

„Man merkt erstmal, was das alles bedeutet, wenn man selbst davon betroffen ist“, sagt sein Chef. Er ist mit der Arbeit von Houssam sehr zufrieden und schätzt ihn nicht nur als freundlichen und zuverlässigen Mitarbeiter, sondern auch als Menschen, der allseits beliebt ist. Houssam arbeitet als Hausmeister in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber im sächsischen Grimma. Lange hat er selbst in diesem Heim gelebt, bevor er eine Wohnung von der Ausländerbehörde erhalten hat. Houssam zahlt seine Miete selbst. Es ist ihm wichtig, keine Leistungen vom Staat zu bekommen, wenn er mit seiner Arbeit eigenes Geld verdienen kann.

Schon vor seinem Job als Hausmeister hat er ehrenamtlich in Grimma gearbeitet und sich für andere Geflüchtete im Landkreis engagiert. Er war Koordinator für ein Selbsthilfeprojekt beim Deutschen Roten Kreuz. Er hat Projekte für geflüchtete Kinder in Grimma unterstützt. Und er hat regelmäßig als ehrenamtlicher Sprachmittler ausgeholfen. Im Heim, bei Beratungsstellen, der Ausländerbehörde und sogar bei der Polizei.

„Ich verstehe das alles überhaupt nicht. Warum machen die Behörden das?“, fragt sich seine Arbeitskollegin. Und ein Helfer der Flüchtlingsinitiative in Grimma meint: „Er ist deutscher als ich. Er kommt immer pünktlich und ist fleißig und gewissenhaft. Was muss man denn noch alles machen, damit man in Deutschland bleiben darf?“

Auf diese Fragen hat das Amtsgericht Dresden eine nüchterne Antwort. Im Beschluss vom 28.02.20 ordnet das Gericht die Ingewahrsamnahme an und begründet dies so:

„Die Ausreisefrist für den Betroffenen ist seit dem Februar 2019 abgelaufen. Anhaltspunkte, dass er unverschuldet an der Ausreise nach Algerien verhindert war, sind nicht ersichtlich“. Weiter in der Logik der doppelten Verneinung: „Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich der Betroffene der Abschiebung nicht entziehen will, denn aufgrund seiner in Deutschland lebenden Ehefrau und seiner Tätigkeit als Hausmeister hat er in Deutschland ein soziales Gefüge, welches er wohl nicht freiwillig aufgeben wird.“ Das Gericht sieht ein „dringendes Bedürfnis für sofortiges Tätigwerden“, denn Houssams Aussage, er wolle mit einem Anwalt Anträge gegen seine Abschiebung stellen, deutet das Gericht als Absicht, dass er sich der Abschiebung entziehen wolle. Es mutet schwer verständlich an, dass einem Menschen, der gesetzmäßige Rechte für sich in Anspruch nehmen möchte, unterstellt wird, er wolle sich dem Gesetz entziehen.

Auch die Ausländerbehörde im Landkreis Leipzig sieht im Fall Houssam dringenden Handlungsbedarf. Sein Antrag für einen Aufenthaltstitel nach der Heirat mit seiner Frau wurde zwar noch nicht beantwortet, aber gegenüber dem Gericht lehnte die Behörde den Antrag „prognostisch“ ab. Begründung: Houssam und seine Frau, die fast 500 Kilometer entfernt bei Mannheim lebt, hätten noch nicht gemeinsam im Amt vorgesprochen. Das beide Eheleute berufstätig sind und Houssam eben aufgrund seines ungesicherten Aufenthalts nicht umziehen darf und nur am Wochenende zu seiner Frau fahren kann, das verschweigt die Behörde dem Gericht. 

„Houssam darf ja nicht umziehen, weil er eine Duldung hat. Ich habe tausendmal bei der Ausländerbehörde angerufen und er hat alle möglichen Anträge gestellt, aber wir haben bis heute keine Antwort bekommen. Nichts wurde weitergeleitet. Das ist echt der größte Drecksladen“.

Ehefrau Belinda

Sein Verbrechen besteht also darin, nicht abgeschoben werden zu wollen. Seine Frau, seine Arbeit, seine Freunde; das alles gilt dem Gericht nicht als Entlastung, sondern als Beweis für seine Schuld. Sein Traum von einem besseren, einem guten Leben in Europa; seine Hoffnung auf eine glückliche Ehe und eine sinnvolle Arbeit haben diesen Freitag ein vorläufiges Ende in der Abschiebehaftanstalt Dresden gefunden.

Das Ticket für die Abschiebung ist schon gebucht.

Was seine Frau von all dem hält, wie sie sich fühlt, welche Ängste sie ausstehen muss, das alles interessiert das Amtsgericht in seiner Begründung nicht. Im Gegenteil, ihre Grundrechte als deutsche Staatsbürgerin werden vom Sächsischen Abschiebesystem geflissentlich ignoriert.

Wenn Behörden und Gerichte das Grundgesetz verletzen und dafür das volle Arsenal staatlicher Gewalt in Anspruch nehmen, dann bleibt den Betroffenen oft nur Ohnmacht und Verzweiflung.

Houssam ist ist einer von vielen Fällen, die ohne Sinn und zu Unrecht abgeschoben werden sollen.

Und jeder Fall ist einer zuviel.

Rückfragen und Kontakt: stay@dorfderjugend.de

Redaktion TolSax

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