Corona-Proteste: Sachsen ist Hotspot von Pandemie und Radikalisierung – Amadeu Antonio Stiftung fordert entschlossenes Handeln von der Bundesregierung
Autor_innen: Amadeu Antonio Stiftung
Berlin, 09.12.2021. Seit Monaten radikalisieren sich die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Sachsen. Die Proteste gelten als “Exportschlager” und finden in ähnlicher Form in ganz Deutschland statt. Die Amadeu Antonio Stiftung warnt vor einer neuen Entgrenzung der Proteste – vor einem Pegida 2.0, zunehmender Gewaltbereitschaft und einer wachsenden Anschlussfähigkeit von Rechtsextremen und anderen demokratiefeindlichen Gruppen an eine breite Bevölkerung.
Ostsachsen, Vogtland und das Erzgebirge sind nicht nur Hotspots der Corona-Proteste, sondern auch der Pandemie. Schutzmaßnahmen werden hier von vielen nicht eingehalten, der Unmut über die Maßnahmen richtet sich unter dem Schlagwort „die da oben” gegen die Demokratie, ihre Institutionen und Vertreter. Aber auch Befürworter der Corona-Schutzmaßnahmen geraten zunehmend ins Visier der demokratiefeindliche Protest-Szene. Diese ist nicht erst mit der Pandemie entstanden, sondern seit Jahren in der Region gefestigt. Während es im Wesentlichen Rechtsextreme sind, die zu den Protesten mobilisieren und aufhetzen, kommt auf der Staße ein breites Spektrum zusammen.
“Hier laufen Neonazis, Reichsbürger und Verschwörungsgläubige gemeinsam mit Corona-Leugnern, Maßnahmen-Gegnern und Menschen aus einem esoterischen und Naturheil-Spektrum”, erklärt Benjamin Winkler, Experte für Reichs- und Verschwörungsideologie der Amadeu Antonio Stiftung in Sachsen. “Mit der Masse von Kleindemonstrationen überall in Sachsen wird der Eindruck eines breiten “Volkswillens” inszeniert, der auch Bedrohung und Gewalt legitimieren soll. Wohin das führt, hat der Fackelmarsch vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin bewiesen”, ergänzt Winkler. “Die Polizei reagierte bisher verhalten bis hilflos. Dieser laxe Umgang trägt zur weiteren Enthemmung und dem Gefühl, im Recht zu sein, bei.”
Rechtsextreme Mobilisierung erreicht Hunderttausende
Das aktuelle Protestgeschehen kann auf bestehende Kanäle und Ressourcen der rechtsextremen Szene zurückgreifen, wie etwa den Telegram-Channel der Partei “Freie Sachsen” mit mehr als 100.000 Usern. Über Telegram wird regelmäßig zu über 120 Demonstrationen aufgerufen. Ob diese alle stattfinden, ist unklar. In den Gruppen werden von Aktivisten vor Ort zahlreiche Videomitschnitte geteilt, die auf eine sachsenweite Vernetzung hinweisen.
“Die aktuellen Proteste bauen auf Strategien auf, die seit Jahren von Rechtsextremen erprobt wurden. Durch die scheinbar spontanen und dezentralen Mobilisierungen zu ‘Spaziergängen’ wird das Versammlungsgesetz umgangen. Diese Strategie kennen wir schon von den ‘Nein zum Heim’-Protesten der NPD seit 2013 und von Pegida”, erklärt Benjamin Winkler.
Sächsisches Modell der Corona-Proteste macht bundesweit Schule
Engagierte vor Ort sehen sich schon länger allein gelassen und befürchten zunehmende Bedrohungen bis hin zu Anschlägen aus dem radikalisierten Milieu. Die Demonstrationsorte werden zu neuen No-Go-Areas. Dennoch verkennt die sächsische Regierung den Ernst der Lage noch immer und geht nur zögerlich gegen die, nach epidemischer Lage unzulässigen, Aufzüge vor.
“Dieser Hass gegen die Demokratie kommt nicht aus dem luftleeren Raum und wird auch nicht einfach wieder verschwinden, nicht mit dem Ende der Pandemie und schon gar nicht von allein. Den Protestierenden geht es nicht in erster Linie um die Corona-Maßnahmen, diese sind nur der Katalysator. Es geht um eine Ablehnung des demokratischen Systems. Wohin das im Extremfall führen kann, hat der Mord von Idar-Oberstein gezeigt, wo ein junger Mann in einer Tankstelle erschossen wurde, weil er auf die Maskenpflicht hinwies. Es ist zu befürchten, dass aus dem radikalisierten Milieu der Corona-Proteste weitere Gewalttaten verübt werden”, warnt Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung.
“Die sächsische Landesregierung muss nach jahrzehntelanger Verharmlosung endlich klare Kante gegen Rechts zeigen und diese Versammlungen unterbinden, auch im Interesse der Pandemiebekämpfung. Auch die neue Bundesregierung braucht Antworten auf diese Entwicklung, denn das sächsische Modell der Corona-Proteste macht längst bundesweit Schule. Zu lange wurde auch auf Bundesebene der Radikalisierung tatenlos zu gesehen und die Gefahr nicht klar benannt.”
Von der neuen Bundesregierung fordert Reinfrank daher: “Die kommunale Ebene muss dringend in der Auseinandersetzung mit den rechtsextremen Mobilisierungen unterstützt und klinisches Personal und Ärzte müssen vor Angriffen geschützt werden. Die politische Bildung braucht grundlegend neue Ansätze mit aufsuchenden Formaten und zivilgesellschaftliche Initiativen müssen in der Auseinandersetzung mit den Corona-Protesten unterstützt werden. Gesundheits- und Rechtsextremismusprävention müssen zusammen gedacht werden.”