Autoritäre Prävention. Abgründe vorhersagender Polizeiarbeit
Tendenz: autoritär
Die Konsequenzen eines solchen zirkulären Denkens, das Wahrscheinlichkeit und Wirklichkeit kaum mehr unterscheiden kann, sind so verheerend wie allgegenwärtig. Eine Boulevardzeitung titelte im Dezember 2017: „Die Linken beschließen: Terroristen dürfen bleiben!“31 Sachlich ging es um den Beschluss der Partei Die Linke, sogenannte „Gefährder:innen“ nicht pauschal abzuschieben. Den Unterschied zwischen einer präventionslogischen und praktisch recht beliebig vergebenen Bezeichnung wie „Gefährder:innen“ (es obliegt der Polizei allein, Menschen in diese Kategorie zu sortieren, eine Prüfung findet nicht statt) und tatsächlichen Terrorist:innen kassiert die Zeitung beiläufig. Es ist also unerheblich, ob jemand etwas getan hat oder etwas tun könnte. Der Titel ist von xenophoben Vorurteilen getragen, bestätigt aber zugleich die Logik präventiver Fiktionalisierung bzw. der Übersetzung einer Risikobewertung in einen vermeintlichen Tatbestand im Jetzt. Wer im Moment die Zukunft „belegen“ kann, muss zwischen Gefahr und Tat nicht mehr unterscheiden.32
Wer im Moment die Zukunft „belegen“ kann, muss zwischen Gefahr und Tat nicht mehr unterscheiden.
„Der Kreis zwischen Vorhersage […] und möglicher Kontrolle beginnt sich zu schließen.“33 Was für sogenannte Gefährder:innen gilt, hat Konsequenzen für alle, auch wenn diese noch nicht überall und für alle sichtbar werden: Der „Mensch, der überwacht wird, wird zum Verbrecher auf Abruf“, weil er „grundsätzlich verdächtig ist“.34 Was Pat OʼMalley bereits 1992 kritisch diskutiert und als neokonservative Regierungstechnik mithilfe von Risikobewertungen umschrieben hat,35 kommt mit leistungsfähigen Rechenmaschinen gewissermaßen zu sich selbst. Wenn Prävention nicht mehr antizipiert, sondern sicher zu wissen glaubt, kippt sie ins Autoritäre.
Gleichzeitig, so scheint es, steigen die Erwartungen. Wer sich solcher Techniken bedienen kann, muss doch, so die sicherlich unlautere Paraphrase eines Zeitgeists, in der Lage sein, Kriminalität endlich restlos zu verhindern. Aus der anderen Richtung beschaut und als Frage formuliert: Wie kann es sein, dass in einer Gesellschaft, die so sicher ist wie vor ihr noch keine, das Geschrei immer lauter wird? Kaum eine Woche vergeht, ohne dass ein Innenminister, eine Polizeipräsidentin, irgendwer von den Polizeigewerkschaften oder ein anderer reaktionärer Querkopf mit einem Superlativ glänzt. Die Ausschreitungen in Stuttgart im Sommer 2020 wurden zum „Zivilisationsbruch“ oder zur „Bundeskristallnacht“ umgedeutet; als es auf dem Frankfurter Opernplatz zu ähnlichen Szenen kam, war einmal mehr von einer „neuen Qualität“ die Rede. Die Fälle sind beliebig, die Rhetorik des permanenten Superlativs bemächtigt sich fast aller Ereignisse. Für diesen irren Zauber der spektakulären Übertreibung gibt es sicher viele Gründe.36 Einer davon könnte sein, dass die gefühlte Allmacht, die mit vermeintlich exakten Berechnungen einhergehen kann, jede Form von praktischer Kriminalität umso schlimmer aussehen lässt. Wer mithilfe der Black Boxes glaubt, das Verbrechen zumindest perspektivisch restlos unter Kontrolle zu bringen, provoziert verschobene Ansprüche. Gleichzeitig bereitet dieses Denken dem Autoritären den Weg, weil die totale Kontrolle zum sachlichen und legitimen Mittel mutiert. Vorhersagende Polizeiarbeit führt also geradewegs in eine „blockierte“ Gesellschaft, in der alle potentiell schuldig sind. Dann „besteht das einzige Verbrechen darin, sich erwischen zu lassen.“
31Tag24 (2017).
32Auch das Justizwesen ist von Algorithmen beseelt und lässt verschiedene Dinge, vor allem das Strafmaß, berechnen. Die Abgründe sind derweil die gleichen, siehe dazu Daum (2018): 67ff. und Fry (2019).
33Nowotny (1993): 66f.
34Daum (2018): 79.
35OʼMalley (1992, 2000, 2004).
36Etwa die Superlativgesellschaft, vgl. Feustel (2020).
Zum Autor
Dr. Robert Feustel studierte Politikwissenschaft und Geschichte in Leipzig und Madrid, er beschäftigt sich mit politischer Theorie, Stadtsoziologie, Drogenforschung und Wissens- bzw. Wissenschaftsgeschichte. Aktuell arbeitet er im Fachbereich Wissenssoziologie und Gesellschaftstheorie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen „Am Anfang war die Information. Digitalisierung als Religion“, „Grenzgänge. Kulturen des Rauschs seit der Renaissance“ und „Die Kunst des Verschiebens. Dekonstruktion für Einsteiger“.
>> Seite 5 | Literatur
Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“
2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0