Antisemitismus in Sachsen: Für Betroffene Alltag, von Behörden häufig ignoriert – Studie des Bundesverband RIAS e.V. vorgestellt
Autor_innen: Bundesverband RIAS e.V.
Dresden (23.2.2021) Jüdische Sächs_innen berichten von einer häufig gleichgültigen Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber offenem Antisemitismus. Im Kontext vieler antisemitischer Vorkommnisse auf Versammlungen in Dresden wird zudem eine starke Diskrepanz zwischen der polizeilichen Statistik und den Einschätzungen der Zivilgesellschaft deutlich. Diese Bestandsaufnahme leistet die „Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen“, die der Bundesverband RIAS e.V. am heutigen Dienstag vorstellte.
Die Studie setzt sich zusammen aus einer Analyse polizeilicher und zivilgesellschaftlicher Daten zu antisemitischen Vorfällen und Straftaten im Bundesland und einer Befragung jüdischer Communities vor Ort. Die „Problembeschreibung“ ist unter report-antisemitism.de/publications einzusehen.
Insgesamt 19 leitfadengestützte Interviews mit 23 Vertreter_innen jüdischer Gemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Akteur_innen führte der Bundesverband RIAS e.V. in Sachsen durch. Die Befragten berichteten dabei von sämtlichen Formen des Antisemitismus im Freistaat – sowohl in Hinblick auf die inhaltlichen Ausprägungen als auch auf die Art der Vorfälle, welche bis zu extremer Gewalt reicht. Sie erwähnten vielfältige Milieus als Träger_innen von Antisemitismus in Sachsen, allen voran, jedoch rechtspopulistische und rechtsextreme Akteur_innen. Antisemitismus ist, wie in anderen Bundesländern auch, eine den Alltag von sächsischen Juden und Jüdinnen prägende Erfahrung.
Einige Interviewte berichteten von einer teilnahmslosen Haltung der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft bei offen antisemitischen Äußerungen. Sie äußerten infolge schlechter Erfahrungen und geringer Erwartungshaltungen deutliche Vorbehalte gegenüber der Polizei. Hingegen ist die Vermeidung in der Öffentlichkeit als jüdisch erkennbar zu sein, eine verbreitete Umgangsstrategie der Befragten.
Zusätzlich wertete der Bundesverband RIAS e.V. für den Zeitraum zwischen 2014 und 2019 insgesamt 712 antisemitische Vorfälle und Straftaten – von verbalen Anfeindungen über gezielte Sachbeschädigungen bis hin zu Gewalttaten – aus. Im Schnitt wurden in Sachsen jede Woche fast drei antisemitische Vorfälle bekannt, über die Hälfte davon in Chemnitz, Dresden und Leipzig. Gerade hier zeigte sich, wie sehr eine sensibilisierte Zivilgesellschaft die Sichtbarkeit von antisemitischen Vorfällen begünstigt. Die Diskrepanz zwischen zivilgesellschaftlichen und polizeilichen Erhebungen zeigt sich insbesondere im Kontext antisemitischer Inhalte auf Versammlungen unter freiem Himmel: Allein in der Landeshauptstadt wurden 33 solche antisemitischen Vorfälle bekannt, von denen lediglich drei auch in der polizeilichen Statistik auftauchten.
Stimmen zur Veröffentlichung der „Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen“:
Benjamin Steinitz
geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS e.V.:
„Es gibt neben Berlin keine andere deutsche Stadt, in der über viele Jahre hinweg so regelmäßig Versammlungen mit offen antisemitischen, rassistischen, demokratie- und medienfeindlichen Inhalten zu beobachten sind, wie in der sächsischen Landeshauptstadt. Nicht nur anlässlich des Jahrestags der Bombardierung Dresdens, sondern auch im Umfeld von PEGIDA-Versammlungen werden regelmäßig Bagatellisierungen, aber auch strafbare Leugnungen der Schoa sowie antisemitische Verschwörungsmythen verbreitet. Auch unsere Untersuchung bildet hierzu nur einen Ausschnitt ab. Sie verdeutlicht auch die Wichtigkeit einer systematischen und kontinuierlichen zivilgesellschaftlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle im Freistaat.“
Dr. Nora Goldenbogen
Vorsitzende des Landesverbands Sachsen der Jüdischer Gemeinden:
„Für Jüdinnen und Juden kommt die Bedrohung in Sachsen aus mehreren Richtungen, allem voran aber natürlich durch den Schulterschluss von Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Ebenso besorgniserregend ist für unsere Gemeinden das spürbare Beschweigen dieser Bedrohung in Teilen der Gesellschaft. Gerade hier muss die Zivilgesellschaft, aber auch die Politik noch proaktiver und ausdauernder Position gegen Antisemitismus beziehen. Präventionsprojekte gegen Antisemitismus müssen dringend vervielfacht und dauerhaft gefördert werden.“
Dr. Thomas Feist
Beauftragter der Sächsischen Staatsregierung für das Jüdische Leben:
„Die vorliegende Studie öffnet den Blick auf die Herausforderungen im Bereich der Antisemitismusprävention ebenso wie für die Anforderungen der im Koalitionsvertrag vereinbarten Einrichtung einer niedrigschwelligen Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus und psychosozialer Beratungsstelle für Betroffene. Ich bin mir sicher, dass die nun veröffentlichte Studie eine gute Grundlage für die weitere Arbeit der Staatsregierung ist und auch der parlamentarischen Arbeit damit eine gute, faktenbasierte Informationsquelle zur Verfügung steht.“
Zsolt Balla
Landesrabbiner von Sachsen; Mitglied des Bundesverbands RIAS e.V.:
„Zu oft wurden unsere Erfahrungen mit Antisemitismus bagatellisiert. Zudem wussten wir nicht wo wir uns hinwenden können und haben so viele unserer Erlebnisse für uns behalten. Als Gründungsmitglied des Bundesverbands RIAS e.V. weiß ich, dass RIAS fest an der Seite der Betroffenen steht und unsere Sorgen ernst nimmt. Nur wenn wir anfangen unsere alltäglichen Erfahrungen konsequent an unsere Freunde von RIAS zu melden, wird sich die allgemeine Situation auch irgendwann verbessern.“
Grit Hanneforth
Geschäftsführerin des Kulturbüro Sachsen e.V.:
„Wir beobachten seit einigen Jahren, wie ausgehend von der gut organisierten extremen Rechten im Bundesland, antisemitische Vorfälle immer weiter zunehmen. Die Proteste gegen die Maßnahmen der Corona-Pandemie haben antisemitische Denkmuster noch einmal befeuert. Der Freistaat Sachsen hat gerade erst begonnen mit einer ernsthaften Auseinandersetzung mit diesem Thema. Sowohl von staatlicher, wie auch von zivilgesellschaftlicher Seite müssen wir Antisemitismus in den nächsten Jahren konsequent zurückdrängen.“