Antifaschismus – ein unbequemes Konzept

„Brauchen wir einen neuen Antifaschismus?“

So betitelte „Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften“ seine 200. Ausgabe im Sommer 1993. Im Editorial heißt es:

„Die Titelfrage ist nicht rhetorisch. Wir wissen keine eindeutige Antwort. Wir wissen nur, daß das gestern Richtige, wenn es sich nicht ins heute zu übersetzen vermag, nicht mehr ‚richtig‘, sondern ,historisch‘ im Sinne von ,vergangen‘ ist. So die Abwehrbereitschaft, die als, antifaschistisch‘ auftritt.“17

In seinem Beitrag „Der alte Antifaschismus ist tot. Für ein qualitativ neues Verständnis“ entwickelt Axel Hauff fünf Thesen, was Antifaschismus in der Gegenwart bedeuten könnte:

  1. Auseinandersetzung mit patriarchalen Strukturen, die auch im „alten Antifaschismus“ nicht überwunden waren
  2. Auseinandersetzung mit Rassismus, dem virulentesten Element faschistischer Ideologie
  3. Überwindung des Denkens und Handelns in nationalstaatlichen Kategorien
  4. Entwicklung von Utopien einer humanistischen, sozial gerechten Gesellschaft
  5. Ausgangspunkt für einen neuen Antifaschismus sind gegenwärtige Konflikte18

Als sechstes möchte ich hinzufügen: Engagement für eine demokratische Ausgestaltung der Gesellschaft. Denn ohne demokratische gesellschaftliche Verhältnisse ist eine humanistische und sozial gerechte Gesellschaft nicht denkbar. Insofern korrespondiert diese sechste These mit der vierten. Demokratie bedeutet hierbei nicht nur, dass es möglichst stabile, aus freien Wahlen hervorgegangene Institutionen wie Parlament und Regierung – und damit die Legitimation von Herrschaft – gibt. Demokratische Verhältnisse als Lebensform erfordern, dass jeder Mensch jederzeit und überall das Recht und die Möglichkeit hat, über sich selbst zu bestimmen und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten.


Demokratische Verhältnisse als Lebensform erfordern, dass eder Mensch jederzeit und überall das Recht und die Möglichkeit hat, über sich selbst zu bestimmen und die Gesellschaft aktiv mitzugestalten.


Die Überlegungen von Axel Hauff sind interessant: Seit 2001 habe ich in meiner Tätigkeit als Mobile Beraterin19 vielfach Kontakt mit Initiativen und Vereinen, in deren politischer Praxis sich die Themen dieser sechs Thesen widerspiegeln. Ich skizziere dies kurz an einem Beispiel: In einer Kleinstadt hatten sich Jugendliche mit ähnlichen Erlebnissen und Erfahrungen zusammengefunden. Das betraf zum einen Auseinandersetzungen mit Menschen, die sie als Nazis wahrnahmen und zum anderen die Reaktionen von vor allem Erwachsenen auf ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen. Interviews und Gespräche waren Grundlage für eine Analyse: Das Interesse richtete sich unter anderem darauf herauszufinden, was die Jugendlichen bewegt, wenn sie über Rassismus, Antirassismus oder Antifaschismus sprechen. Was bedeutet es, wenn sie sagen, sie seien gegen Nazis? Drei Punkte ließen sich herauskristallisieren:

  1. Erfahrungen und Konflikte mit organisierten Nazis aus der Gegenwart und dem Schweigen der Erwachsenen führten Jugendliche zu der Frage nach der konkreten Geschichte in der Zeit des Faschismus in ihrem Ort.
  2. Es entstanden Fragen an die Gegenwart: Wo verlaufen diese Konfliktlinien heute? Welche Formen von Ausgrenzung finden statt?
  3. Wie möchten wir eigentlich zusammenleben? Und was ist uns für die Zukunft wichtig?

Interessant ist, dass junge, zum Teil erst 16-jährige Menschen begannen, Fragen und Vorstellungen zu formulieren, die auf Austausch in der Öffentlichkeit und damit letztlich auf eine Demokratisierung von Gesellschaft gerichtet sind. Damit deckten sie jedoch gleichzeitig die Mechanismen auf, die Menschen kategorisieren und unterdrücken.20


Mit Bezug auf die eingangs zitierten Äußerungen von Armin Pfahl-Traughber oder Markus Ulbig stellt sich die Frage, wie tragfähig die Einschätzung ist, dass Demokrat:innen immer auch entschiedene Gegner:innen des Faschismus seien: Danach gab es in dieser Kleinstadt kaum Demokrat:innen, auch nicht im Stadtrat.


Die Jugendlichen trafen in der breiten Stadtgesellschaft, einschließlich des fast gesamten Stadtrates, auf massive Abwehr. Mit Bezug auf die eingangs zitierten Äußerungen von Armin Pfahl-Traughber oder Markus Ulbig stellt sich die Frage, wie tragfähig die Einschätzung ist, dass Demokrat:innen immer auch entschiedene Gegner:innen des Faschismus seien: Danach gab es in dieser Kleinstadt kaum Demokrat:innen, auch nicht im Stadtrat. Und diejenigen, die sich antifaschistisch verstanden und engagierten, erprobten demokratische Formen im Zusammenleben im Verein und im Hausprojekt, die alles andere als konfliktfrei und einfach waren, jedoch selbstbestimmt und bereit zu schwierigen und auch schmerzhaften Auseinandersetzungsprozessen.

Ähnliche Beispiele lassen sich in Sachsen dutzendfach finden: Menschen – in den 1990er Jahre eher Jugendliche, in den letzten Jahren zunehmend auch Menschen aus anderen Altersgruppen – nehmen in ihren Zusammenhängen das Erstarken von faschistischen oder völkisch-autoritären21 Gruppen wahr, nicht zuletzt deshalb, weil sie psychischen und physischen Übergriffen ausgesetzt sind. Sie finden sich zusammen, teilen ihre Erfahrungen, überlegen, was sie tun können und beginnen, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die für sie im Zusammenhang mit dem selbstbewussten Auftreten dieser Gruppen und Personen stehen: Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Faschismus, Geschichte, Demokratie etc. Das schließt immer die Frage ein: Wie wollen wir eigentlich zusammenleben? Und es führt zu einer Praxis: Sie organisieren sich, erproben neue Formen eines gleichberechtigten, transparenten Miteinanders, entwickeln Angebote politischer Bildung und thematisieren Rassismus, Antisemitismus, faschistische und/oder völkisch-autoritäre Strukturen und deren konkretes Wirken im Lokalen. Schaut man sich das Selbstverständnis und die Angebote von den aus solchen Initiativen entstandenen Vereinen an, scheint es, als hätten sie den von Axel Hauff entwickelten Katalog aufgegriffen. Stellvertretend für viele sei hier auf die Selbstdarstellungen des Treibhaus e. V. in Döbeln und des Netzwerkes für demokratische Kultur e. V. in Wurzen verwiesen.22


Treibhaus e. V., Döbeln, Auszug aus dem Selbstverständnis

Unsere Grundsätze

[…] Dieser Anspruch leitet sich aus einem antifaschistischen und rassismuskritischen Grundverständnis ab. Unsere Vorstellung von Antifaschismus orientiert sich an universellen Werten wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Sinne eines aufklärerischen und kosmopolitischen Ideals. Alle Mitwirkenden verbindet die Idee, im Hier und Jetzt Vorstellungen einer gerechteren Welt zu entwickeln und durch das eigene Zutun deren praktische Verwirklichung zu erproben. Hierfür werden alternative Strukturen, nicht kommerzielle Partizipationsangebote und Ressourcen zur Verfügung gestellt. Der Treibhaus e. V. dient somit als Frei- und Schutzraum zur individuellen Entfaltung unabhängig von Alter, geschlechtlicher Identität, sexueller Orientierung oder Herkunft. […]

Der Verein versteht sich als gesellschaftlich aktiv und wendet sich gegen alle Formen menschenverachtender Einstellungen und Diskriminierungen. Das schließt die kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus ebenso ein wie die lokalgeschichtliche Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus.23



Netzwerk für Demokratische Kultur e.V., Wurzen, Auszug aus der Entstehungsgeschichte und dem Leitbild

Entstehungsgeschichte des Netzwerk für Demokratische Kultur e.V.

Im Dezember 1999 war es eine Handvoll Jugendlicher vom Punker bis zum Mitglied der jungen Gemeinde, die sich in einer unbeheizten Wurzener Hinterhof-Wohnung trafen und das Netzwerk für Demokratische Kultur e. V. (NDK) gründeten.

Sie wollten nicht länger hinnehmen, dass die sächsische Kleinstadt von Neonazistrukturen dominiert wurde, während die Stadtspitze und die Mehrheit der Bürger_innen wegschaute. Einen geschützten Raum zu schaffen, in dem demokratische Ideen gemeinsam entwickelt und umgesetzt werden konnten, war von Anfang an die Grundlage des NDK.24

Leitbild

Das NDK steht für eine gelebte demokratische Kultur, für das Einüben demokratischer Praktiken, für das gewaltfreie Aushandeln von Konflikten, für eine kritische und aktive Zivilgesellschaft. Das NDKsetzt sich ein für eine respektvolle und wertschätzende Kommunikation, politische Mitbestimmung und Beteiligung auch jenseits von Parlamenten, den Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte, sozialen Zusammenhalt, lebendige Erinnerungskultur und vielseitige Bildung. […] Das NDKsteht allen Menschen offen, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen und sich im Sinne einer demokratischen Kultur engagieren wollen. Wer die Gleichwertigkeit jedes Menschen nicht anerkennen will, wer rassistische und sexistische Positionen oder nationalistisches und faschistoides Gedankengut verbreitet, ist bei uns fehl am Platz.25


Vereine wie die genannten waren und sind immer wieder mit An- und Übergriffen konfrontiert und dies, das sei deutlich gesagt, nicht nur von Gegner:innen demokratischer Verhältnisse. In den kommunalen Gesellschaften führt das Wirken von solchen Vereinen sehr häufig zu Abwehrhaltungen und -handlungen – auch und gerade aus der Verwaltung und den Stadt- und Gemeinderäten, von Menschen, die sich selbst als demokratisch beschreiben. Dieser Abwehrreflex ist häufig damit verbunden, peinlichst alles, was irgendwie „links“ erscheint, abzuwehren. Vielmehr solle laut diesen Akteur:innen aus einer „demokratischen Mitte“ heraus agiert werden. Das eigentliche Problem hieran ist, dass das, was eine „demokratische Mitte“ sein soll, von ihnen nicht beschrieben wird. Zudem belegen empirische Studien seit etwa 20 Jahren,26 dass es diese „reine demokratische Mitte“ nicht gibt, sondern insbesondere rassistische, aber auch viele andere Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Wilhelm Heitmeyer) in weiten Teilen der Bevölkerung geteilt werden.

In der Praxis verbindet sich antifaschistisches Engagement also häufig, gewiss nicht ausschließlich, mit einem entschiedenen Eintreten für eine demokratische, soziale und gerechte Gesellschaft und der Abwehr dessen, was dies grundsätzlich infrage stellt. Insofern findet eine Übersetzung von Antifaschismus in die Gegenwart statt. In der öffentlichen Diskussion wird jedoch häufig im antikommunistischen Geist ein Umkehrschluss hergestellt: Antifaschismus sei „totalitär“ oder „extremistisch“ und daher auszuschließen. Das betrifft dann ebenso die antifaschistischen Akteur:innen.


In der Praxis verbindet sich antifaschistisches Engagement also häufig, gewiss nicht ausschließlich, mit einem entschiedenen Eintreten für eine demokratische, soziale und gerechte Gesellschaft und der Abwehr dessen, was dies grundsätzlich infrage stellt. Insofern findet eine Übersetzung von Antifaschismus in die Gegenwart statt.


Vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte, dem von seinen Motiven her breiten antifaschistischen Widerstand vor allem während der NS-Zeit und dem antifaschistischen Grundkonsens in der unmittelbaren Nachkriegszeit, der sich vor allem mit Demokratisierung und sozialer Gerechtigkeit verband, steht es uns heute gut an, antifaschistisches Engagement als das zu würdigen, was es sehr häufig für die Akteur:innen bedeutet: interessiert an einer Demokratisierung der Gesellschaft, aktiv in der Auseinandersetzung mit Erscheinungen und Strukturen, die die Gleichwertigkeit von Menschen infrage stellen, engagiert und unbequem.


17Haug (1993b): 499. Wolfgang Fritz Haug und die Zeitschrift Das Argument, deren Mitherausgeber er ist, setzen sich seit den 1960er Jahren kontinuierlich mit dem Thema Faschismus auseinander.

18Hauff (1993): 591ff.

19Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus ist ein seit 20 Jahren (weiter-)entwickeltes Konzept zur Stärkung demokratischer Alltagskultur in Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und anderen Ungleichwertigkeitsvorstellungen. Informationen hierzu auf der Homepage des Bundesverbandes Mobile Beratung (2020).

20Dieses Beispiel und die Schlussfolgerungen stammen aus einem Gespräch (unveröffentlichtes Transkript) von meinen Freunden und Kollegen Friedemann Affolderbach und Uwe Hirschfeld zum Thema „Was kann Antifaschismus in der Gegenwart bedeuten?“. Ich danke beiden herzlich, dass sie mir ihre Gedanken zur Verfügung gestellt haben.

21In der Regel werden die Begriffe „rechts“, „rechtsextrem“ oder „rechtspopulistisch“ benutzt. Es ist hier nicht der Raum, um über die verschiedenen Begriffe ausführlich zu reflektieren.

22 Siehe Info-Kästen

23 Treibhaus e. V. (o. J.).

24Netzwerk für Demokratische Kultur (o. J. a).

25Netzwerk für Demokratische Kultur (o. J. b).

26Die Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht seit 2002 alle zwei Jahre eine Studie zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland, zunächst in Zusammenarbeit mit Elmar Brähler und Oliver Decker von der Universität Leipzig, seit 2014 mit dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Zuletzt erschien Zick et al. (2019). Seit 2016 veröffentlichen Brähler/Decker ihre Untersuchungen in Zusammenarbeit mit der Otto-Brenner-Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung, seit 2018 unter dem Titel „Leipziger Autoritarismus-Studie“. Zuletzt erschien Decker/Brähler (2020).


Zur Autorin

Solvejg Höppner ist Diplomhistorikerin. Seit 2001 arbeitet sie im Mobilen Beratungsteam (MBT) des Kulturbüro Sachsen e. V. Das MBT berät und unterstützt Menschen, die sich mit Neofaschismus, Rassismus, Antisemitismus und anderen Ungleichwertigkeitsvorstellungen in lokalen Kontexten auseinander- und für die Entwicklung und Stärkung einer demokratischen Alltagskultur einsetzen.

>> Seite 4 | Literatur


Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

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Redaktion TolSax

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