9 Thesen zu Anfeindungen, Verschwörungsmythen und rechtsoffenen Versammlungen im Kontext der Corona-Pandemie
Autor_innen: Bundesverband Mobile Beratung (BMB)
Die gesellschaftlichen Herausforderungen durch die aktuelle Covid-19-Pandemie haben seit Februar 2020 nicht zuletzt zu drastischen staatlichen Maßnahmen geführt. Diese werden zum einen in den Sozialen Medien häufig emotionalisiert diskutiert, zum anderen finden in vielen Orten Kundgebungen und Proteste als Reaktion statt. Nicht selten lassen sich jedoch sowohl online als auch in Redebeiträgen auf den „Corona-Demos“ antisemitische Bilder oder Verschwörungsmythen und Erzählstränge aus dem extrem rechten und antidemokratischen Repertoire wiederfinden. Diese werden zunehmend insbesondere in den Sozialen Medien weit über das (extrem) rechte Milieu hinaus verbreitet. Zeitgleich kommt es vermehrt zu Angriffen und Bedrohungen, zunächst vor allem gegen als asiatisch gelesenen Menschen.
Auf der Basis der Erfahrungsberichte der Mobilen Beratungsteams aller 16 Bundesländer bis zum 18.05.2020, in die die Beratungsarbeit, die Zusammenarbeit mit Kooperationspartner*innen vor Ort und die Recherchetätigkeiten eingeflossen sind, werden in diesem aktuellen Papier des Bundesverbands Mobile Beratung erste Thesen formuliert, die eine Einschätzung der aktuellen Situation hinsichtlich extrem rechter, rassistischer und antisemitischer Akteur*innen, Strategien und Ideologiefragmenten sowie daraus sich ergebenden gesellschaftlichen Herausforderungen möglich machen.
Zentrale Thesen zur Einschätzung der aktuellen Proteste und Angriffe
- Die aktuellen Proteste im Netz und auf der Straße werden durch unterschiedliche Milieus geprägt, sind aber entweder nicht nach rechts abgegrenzt oder durch extrem rechte Akteur*innen getragen, die das Potential für gewalttägige Ausbrüche erhöhen.
- Die AfD hat bisher keine konsistente Position zur Frage des Umgangs mit der Pandemie entwickeln können, versucht aber zunehmend mit Kritik am Regierungshandeln von den Protesten zu profitieren und ihre Kernthemen zu platzieren.
- Neonazistische Akteur*innen versuchen am Protest teilzunehmen, wirken aber vor allem in die eigene Gefolgschaft und bieten sich als „Kümmerer“ an.
- Ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Spektren des Protests mit breiter Anknüpfungsfähigkeit bilden antisemitische Bilder und Verschwörungsmythen.
- Die in den Protesten auf der Straße und in Sozialen Medien geäußerten Behauptungen und Forderungen sind anknüpfungsfähig und reichen weit über (extrem) rechte Milieus hinaus – dabei werden zentrale extrem rechte und antidemokratische Topoi zunehmend reproduziert, bleiben unwidersprochen und werden übernommen.
- Soziale Medien, rechte „Alternativmedien“ und öffentliche Personen spielen für die Verbreitung der Narrationen und die Organisation der Straßenproteste eine große Rolle.
- Der in den Protesten vertretene Demokratiebegriff ist tendenziell ausgrenzend, auf den Nationalstaat bezogen und richtet sich gegen die Gewaltenteilung.
- In den Protesten und dem sie grundierenden Diskurs werden Gruppen konstruiert und als Virusträger stigmatisiert. Die so geschürte, rassistische und antisemitische konnotierte Stimmung bedroht schon jetzt Menschen und kann den Boden bereiten für weitere Übergriffe und Gewalttaten.
- Der Mangel an Möglichkeiten zu demokratischer Partizipation und Protest sowie die Schwäche der demokratischen Zivilgesellschaft im Netz stärken extrem rechte Hegemoniebestrebungen.
Empfehlungen des Bundesverbands Mobile Beratung an Verantwortungstragende in der Politik
Es ist legitim und richtig, staatliches Handeln kritisch zu hinterfragen und gerade hinsichtlich der Grundrechtseinschränkungen immer wieder die Verhältnismäßigkeit in den Blick zu nehmen. Diese Anliegen sollten auch weiterhin ernst genommen und diskutiert werden, politische Entscheidungen transparent gemacht und nachvollziehbar erklärt werden.
Die aktuellen Proteste weisen allerdings darüber hinaus, weil sie in großen Teilen nicht abgegrenzt sind gegenüber extrem rechten Akteur*innen, vor allem aber zentrale extrem rechte Topoi und strukturell antisemitische Verschwörungsmythen übernehmen und weiter verbreiten – auch dort, wo Rechtsextreme nur am Rande oder gar nicht Teil der lokalen Diskurse und Proteste sind. Diese bauen vielerorts auf Vernetzungen, aber auch emotionalen Rahmungen auf, die in den letzten Jahren gerade im Rahmen der Proteste zur sogenannten „Flüchtlingskrise“ immer wieder angespielt und verfestigt wurden. Zudem steigt die Gefahr von Angriffen auf als Virusträger stigmatisierte Gruppen oder mutmaßlich Verantwortliche. Schlussendlich droht eine Hegemonie rechter Narrationen im Diskurs aufgrund fehlender Möglichkeiten zu politischer Partizipation und Protestformaten jenseits der aktuellen Deutungsangebote und einer Schwäche der demokratischen Zivilgesellschaft gerade auch Online. Daher empfiehlt der BMB auf der Basis der aktuellen Einschätzung:
- Die aktuellen Proteste müssen ernst genommen werden, allerdings vor allem als Bedrohung für den demokratischen Diskurs und Betroffene rassistischer und antisemitischer Agitation und Angriffe.
- Es braucht Räume für Diskussion der aktuellen und zukünftigen Maßnahmen, der grundlegende Regeln demokratischer Debatte einhält: Schutz von Betroffenen, keine Reproduktion extrem rechter Topoi und keine Weitergabe von Verschwörungsmythen.
- Es gilt, Fehler aus den Debatten der Jahre 2015 ff. nicht zu wiederholen und auf Dialogformate, die vor allem die lauten und wahrnehmbaren (extrem) rechten Meinungsführer*innen stärken, zu verzichten. Es sollten Ängste und Befürchtungen aller (also auch und gerade von Rassismus und staatlichen Einschränkungen besonders betroffener Menschen) wahr- und ernstgenommen werden. Aus Sicht der Mobilen Beratung sollten vielmehr Dialogformate – zumindest öffentlich zugängliche – die Diversität der Gesellschaft und damit die unterschiedlichen Positionen zur aktuellen Situation und das vielfältige Engagement der Menschen im Umgang mit der Pandemieeindämmung abbilden.
- Daraus erfolgt auch die Notwendigkeit einer klaren Benennung und Abgrenzung von Politik und Verwaltung gegenüber den aktuell bei den Protesten in den Vordergrund rückenden extrem rechten, verschwörungsideologischen, antisemitischen und rassistischen Standpunkten (auch wenn sie nicht von bekannten Akteur*innen der extremen Rechten geäußert werden), um diese nicht weiter aufzuwerten.
- Die Unterstützung und Beratung von Betroffenen, Engagierten und der demokratischen Zivilgesellschaft erfolgt aktuell unter erschwerten Bedingungen, viele demokratische Netzwerke und zivilgesellschaftliche Initiativen können aktuell kaum arbeiten, Treffen und Vernetzungsrunden auch auf fachlicher Ebene finden vielerorts nur eingeschränkt oder gar nicht statt. In dieser Situation braucht es klare Positionierungen von Politik und Verwaltung, um den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen den Rücken zu stärken, sowie damit verbundene Hintergrundinformationen und Einordnungen.
- Demokratieprojekte benötigen Planungssicherheit und Unterstützung durch die mittelgebenden Behörden, um unter massiv erschwerten Bedingungen weiter einen Gegenpol zu extrem rechten Hegemoniebestrebungen und um sich greifenden Verschwörungsmythen bilden zu können. Dazu gehört auch ein verantwortungsvoller, aber entgegenkommender Umgang mit bürokratischen Anforderungen und Fristen.
- Mittelfristig wird es notwendig sein, Formate unter Einbindung der Bildungs- und Beratungsarbeit im Themenfeld (weiter) zu entwickeln, mit denen die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Verschwörungsmythen im lokalen Raum und den Echokammern der Sozialen Netzwerke gestärkt werden kann. Aus Sicht der Mobilen Beratung ist ein wichtiger Baustein dabei ein sozialräumliches Vorgehen und Berücksichtigung der jeweiligen Gegebenheiten, Diskurse und Akteur*innen vor Ort, das nur in Zusammenarbeit mit Politik, Verwaltung, Sozialarbeit und Vernetzungsstrukturen erarbeitet werden kann. Dabei sollten keine schnellen Projektergebnisse erwartet, sondern ein langer Weg der diskursiven Auseinandersetzung gegangen werden.
Hier gibt es die BMB-Einschätzung als PDF.