Chemnitz: Aufforderung zur Erhaltung von Modellprojekten durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“

Bundesfamilienministerin Giffey bei der Eröffnung des "Aufstand der Geschichten" 2018 in Chemnitz
Bundesfamilienministerin Giffey bei der Eröffnung des „Aufstand der Geschichten“ am 03.11.2018 in Chemnitz
Fotorechte: Mark Frost

Frau Dr. Franziska Giffey

Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Glinkastraße 24
10117 Berlin

Zur Info:
Deutscher Bundestag
Dr. Rolf Mützenich, MdB
Sönke Rix, MdB
Susann Rüthrich, MdB
Svenja Stadler, MdB
Detlef Müller, MdB

Platz der Republik 1
11011 Berlin

Chemnitz, 05. November 2019

Aufforderung zur Erhaltung von Modellprojekten durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“

Sehr geehrte Bundesministerin Frau Dr. Giffey,

die Stadt Chemnitz und die Region ist Austragungsort für massive rassistische Mobilisierungen und Übergriffe. Eine breite Stadtgesellschaft ist nicht erst seit letztem Herbst damit beschäftigt, konstruktive Räume für ein gesellschaftliches Miteinander zu etablieren. Dass wir hierfür finanzielle Unterstützung finden konnten, haben wir auch dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ mit seinen verschieden Säulen zu verdanken. Sie selbst waren mehrfach vor Ort, um uns den Rücken zu stärken, dafür möchten wir uns bedanken!

Gemeinsam standen viele von uns mit Ihnen vor dem Chemnitzer Rathaus, um der Welt zu zeigen, dass Chemnitz auch ein anderes Gesicht hat. Wir konnten zeigen, dass wir gemeinsam stark genug sind, um die offene Gesellschaft zu verteidigen. Erschüttert müssen wir nun feststellen, dass die Finanzierung des Bundes massiv reduziert oder sogar eingestellt werden soll, ausgerechnet für den Teil der Zivilgesellschaft, der hier vor Ort die Arbeit macht, wie Sie es selbst formulierten1.

Chemnitz und Sachsen sind immer wieder besonders von rassistischer Gewalt betroffen. Zuletzt haben Rassisten am 17.09.2019 einen libyschen Rollstuhlfahrer angegriffen. Viele solcher Angriffe geschehen, ohne dass die breite Öffentlichkeit davon erfährt. Die Raumergreifungen sind maßlos. Unser Ort ist Drehkreuz rechtsterroristischer Netzwerke. So war der mutmaßliche Lübcke-Mörder, anders als von den Verfassungsschutzbehörden zunächst behauptet, in unserer Stadt und Region. Die massive Destabilisierung durch rechte Netzwerke in unserer Region werden wir nicht allein bewältigen können. Wir selbst sind uns dieser Aufgabe bewusst und haben viele Maßnahmen ergriffen. Aber wenn wir nicht gemeinsam an diesem international beachteten Ort die Offene Gesellschaft verteidigen, wo dann?

Für unsere Region und Sachsen würden die Streichungen folgendes bedeuten:

  1. Handlungsbasierte Netzwerke für die offene Gesellschaft werden massiv geschwächt.
  2. Hintergrundwissen und Expert*innen werden unsere Region verlassen.
  3. Den Gegner*innen der offenen Gesellschaft wird ein Zeichen gesetzt, wie wir es uns nicht vorstellen möchten.
  4. Diejenigen, die in der Auseinandersetzung ihr Gesicht gezeigt haben, verlieren ihre gesellschaftliche Stellung und ihre wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Das darf nicht sein.

Deswegen solidarisieren wir uns mit allen Initiativen und Modellprojekten, die von den Kürzungen und Streichungen im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ betroffen sind!

Sie selbst haben uns auf der international beachteten Eröffnung Ihres Projektes „Aufstand der Geschichten” in Chemnitz am 03.11.2018 Rückendeckung2 versprochen. Dort konnten Sie erleben, wie durch ein von Ihnen finanziertes Projekt eine breite gesellschaftliche Debatte in der Stadt konstruktiv und kritisch geführt wurde und sich völlig neue Formen der Zusammenarbeit gefunden haben. Auch der Träger dieses Ansatzes hat keine Förderung bekommen, obwohl er von der breiten Kultur- und Zivilgesellschaft sowie der Wissenschaft unterstützt wird.

Ausgerechnet in der aktuellen gesellschaftlichen Lage verlieren ausgezeichnete und bewährte Träger ihre Förderungen und die Anzahl geförderter Modellprojekte in Demokratie leben! sollen gekürzt anstatt ausgebaut werden. Als Bürger*innen dieser Gesellschaft können wir das nicht verstehen und fragen, welche Möglichkeiten es gibt, um diese Entwicklung aufzuhalten?

In einem Bundesland mit grassierendem Rassismus einerseits, wenig Geldern und wenigen Stiftungen für diesen Bereich andererseits, ist eine unabhängige Demokratieförderung von außerhalb nötig. Wenn solche Modellförderungen, die Einstieg in die Professionalisierung sowie Verstetigung von Demokratiearbeit sind, weniger würden, dann gibt es kein ausreichendes Gegengewicht zu rechten Strukturen und seinen Folgen.

Wir laden Sie nach Chemnitz ein, um Ihnen die aktuellen Entwicklungen ein Jahr nach den rassistischen Mobilisierungen zu zeigen und die Notwendigkeit von Unterstützung vor Ort zu verdeutlichen. Wir möchten daher mit Ihnen und den regionalen Akteur*innen aus Sachsen ins Gespräch kommen, denn die Erzählung für eine offene Gesellschaft ist hier in Chemnitz und Sachsen noch nicht entschieden.

Ihre Unterstützung gerade nach dem letzten August war eine große Hilfe. Sie gab vielen von uns zusätzlichen Rückenwind. Mit Ihrem Beistand möchten wir uns gern auch in Zukunft für eine offene Gesellschaft einsetzen und die Demokratie leben!

Mit herzlichen Grüßen,

Liste der Unterzeichner*innen

AGIUA e.V.

Antidiskriminierungsbüro Sachsen e.V.; Sotiria Midelia, Geschäftsführerin

Arthur e.V. Chemnitz

ASA-FF e.V.; Franz Knoppe, Vorstand

Courage – Werkstatt für demokratische Bildungsarbeit e.V./NDC Sachsen; Ralf Hron, Vorstand

D21 Kunstraum Leipzig e.V.; Constanze Müller, Vorstand

Deutsches Filminstitut & Filmmuseum e.V.; Aida Ben Achour, Outreach Manager Agentin

Figurentheater Chemnitz, Gundula Hoffmann, Figurentheaterdirektorin

HALLE 14 – Zentrum für zeitgenössische Kunst Leipzig; Michael Arzt, künstlerischer Direktor

Laura Linnenbaum, Freie Regisseurin

Lauter-leise e.V.; Anna Kaleri, Vorstand

LICHTHOF Theater Hamburg; Matthias Schulze-Kraft, Künstlerischer Leiter

Kinder- und Jugendklub EL ZWO (KJF e.V. Chemnitz); N. Geipel, Projektmitarbeiterin

Kunstsammlungen Chemnitz; Dr. Frédéric Bußmann, Generaldirektor

Kultopia gGmbH; Josefa Hose, Geschäftsführerin

Musikschule Bochum; Inga Marie Sponheuer, Agentin für Diversitätsorientierung

Netzwerk für Kultur- und Jugendarbeit e. V.; Sabrina Jäger, Koordinatorin

Ohnsorg-Theater Hamburg; Julia Bardosch, kommissarische Leitung Ohnsorg Studio

ongoing project GbR

smac – Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz; Dr. Sabine Wolfram, Direktorin

smac – Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz; Attila Bihari, Agent “Change the smac”

Stadt Chemnitz; Barbara Ludwig, Oberbürgermeisterin

Städtische Theater Chemnitz; Dr. Christoph Dittrich, Generalintendant

Theater der Jungen Welt Leipzig; Jürgen Zielinski, Intendant

Theater der Jungen Welt Leipzig; Lydia Schubert, Verwaltungsdirektorin

Theaterkahn – Dresdner Brettl gGmbH; Holger Böhme, Intendant

Theaterlehrer, OStR Stefan Valdes Tittel

TUSCH-Programm Hamburg, Behörde für Schule u. Berufsbildung; Celina Rahman, Programmleitung

TUSCH Theater und Schule Berlin; Dr. Lena Blessing, Programmleitung

TUSCH Frankfurt; Dr. Gundula van den Berg, Programmleitung

Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen; Stefan Schönfelder, Geschäftsführer

WUK Theater Quartier; Tom Wolter, Künstlerischer Leiter


1 Zusammen mit Frau Köpping betonten sie am 27. August 2019 in Leipzig, angesichts der bedrohlichen Lage rechter Gewalt in Sachsen, „dass wir vom Bund das Signal aussenden, dass die, die vor Ort ihre Arbeit machen, mit Unterstützung des Staates rechnen können“. https://www.evangelisch.de/inhalte/159704/27-08-2019/giffey-und-koepping-betonen-bedeutung-der-demokratiefoerderung

2 Eröffnung – Aufstand der Geschichten: https://www.youtube.com/watch?v=_v7wUWautWw

Redaktion TolSax

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