Offener Brief von 1767 Wissenschaftler_innen an die Unions-Fraktion: „Neutralitätsgebot als Instrument der Disziplinierung der Zivilgesellschaft?“
Autor_innen: Verfassungsblog
Offener Brief anlässlich der Kleinen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen
Sehr geehrter Herr Merz, sehr geehrter Herr Dobrindt, sehr geehrte Abgeordnete der Fraktion der CDU/CSU im deutschen Bundestag,
mit großer Besorgnis nehmen wir die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion (Drucksache 20/15035) zur Kenntnis, die sich mit der Finanzierung und vermeintlich fehlenden politischen Neutralität zivilgesellschaftlicher Organisationen befasst. Auf über 30 Seiten und in über 500 Fragen widmet sich die Anfrage explizit der Finanzierung und dem Gemeinnützigkeitsstatus von Organisationen aus der demokratischen Zivilgesellschaft, die sich politisch in der Öffentlichkeit engagieren. Dabei ist im höchsten Maße beunruhigend, dass die Kleine Anfrage das Narrativ eines „tiefen Staates“ aufgreift. Damit wird suggeriert, dass die Arbeit der genannten zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht nur in unzulässiger Weise die politische Willensbildung in der Bundesrepublik beeinflusse, sondern dieser Arbeit auch ein grundsätzlicher Makel anhafte oder eine schädliche Wirkung zu attestieren sei. Das Gegenteil ist doch – im Anschluss an Überlegungen zur Subsidiarität – der Fall.
In Zeiten globaler Verwerfungen und verstärktem Misstrauen gegenüber der Demokratie, in denen die demokratische Zivilgesellschaft so wichtig wie nie ist, erkennen wir einen konfrontativen Unterton in der Kleinen Anfrage und deuten dies als ein alarmierendes Signal. Wir richten diesen Brief deshalb an Sie im Vertrauen auf den grundlegenden Konsens, mittels des Dialogs der Eskalation entgegenzuwirken und vielmehr die Kooperation aller demokratischen Kräfte in unserem Land gegen die weitere Polarisierung und Spaltung unserer Gesellschaft zu bestärken.
Der Kontext und der Zeitpunkt der Kleinen Anfrage legen den Schluss nahe, dass gegen die benannten Organisationen vor allem deshalb der Verdacht einer unzulässigen Beeinflussung der politischen Willensbildung erhoben wird, weil sie anlassbezogene, öffentliche Kritik gegenüber der Politik der CDU/CSU geäußert haben. Bedauerlicherweise entsteht durch die Formulierung der Anfrage jedoch der Eindruck, dass die staatliche Förderungswürdigkeit und Gemeinnützigkeit der aufgeführten Organisationen generell infrage gestellt werden müsse und ihr gesamtes Wirken kritisch zu bewerten sei. Dadurch wird ein negatives Licht auf zivilgesellschaftliches politisches Engagement und die gesamte nichtstaatliche Akteurslandschaft im Allgemeinen und das Prinzip der Subsidiarität geworfen.
Demgegenüber halten wir deutlich fest: Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen eine wichtige Rolle in einer demokratischen Gesellschaft. Unter anderem fördern sie politische Bildung, engagieren sich gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Radikalisierung, setzen sich für Umwelt- und Klimaschutz ein und verteidigen grundlegende Menschenrechte. Ihre Arbeit dient dem demokratischen Gemeinwohl sowie der Artikulation politischer Meinungen – auch in der Form von legitimem Protest – und ist gerade in Zeiten erstarkender autoritärer Strömungen von zentraler Bedeutung. Sie dürfen und sollen unbequeme Fragen stellen und Parteien für ihr Handeln und Vorhaben kritisieren. Schon heute unterliegen diese Organisationen im Falle staatlicher Förderung umfassender Transparenz. Viele der genannten Organisationen haben sich außerdem freiwillig der “Initiative Transparente Zivilgesellschaft” angeschlossen.
Es verbittet sich, Nichtregierungsorganisationen, wie die Kleine Anfrage durch die Bezugnahme auf einen tendenziösen Beitrag in der Zeitung „Die Welt“ suggeriert, als „Schattenstruktur“ oder gar als Ausdruck eines „tiefen Staates“ zu diffamieren. Vielmehr bilden NGOs in transparenter Weise eine tragende Säule demokratischer Willensbildung und friedlicher Konfliktaustragung. Dies zeigt gerade auch die demonstrative Sichtbarkeit, mit der u.a. Protestbewegungen ihre verfassungsmäßigen Rechte in Anspruch nehmen und für ihre Interessen eintreten.
Neutralitätsgebot als Instrument der Disziplinierung der Zivilgesellschaft?
Ihre Anfrage suggeriert, dass staatlich geförderte Organisationen einer Neutralitätspflicht unterliegen, die sich aus der Neutralitätspflicht des Staates ableitet. Dies ist verfassungsrechtlich nicht haltbar.
Wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont hat, ist es Aufgabe des Staates, eine „freie und offene Meinungs- und Willensbildung“ (BVerfG, Urteil zur Parteienfinanzierung II, 1966) zu gewährleisten. Die Neutralitätspflicht des Staates bezieht sich auf das Handeln der Exekutive, nicht aber auf die Meinungsäußerungen und die politische Arbeit unabhängiger zivilgesellschaftlicher Akteure. Eine Übertragung dieser Pflicht auf Nichtregierungsorganisationen ist daher ein „etatistisches Missverständnis“ (Verfassungsblog 2024).
Die Vorstellung, dass eine Organisation durch öffentliche Förderung zu einem „verlängerten Arm des Staates“ werde und sich deshalb jeglicher politischer Äußerung enthalten müsse, widerspricht dem Verfassungsprinzip der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu klargestellt, dass auch Organisationen, die staatliche Unterstützung erhalten, eine eigenständige gesellschaftliche Rolle haben und ihre Unabhängigkeit gewahrt bleiben muss (BVerfG, Entscheidung zu parteinahen Stiftungen, 1986). Insbesondere behalten sie ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit, sich friedlich zu versammeln.
Zivilgesellschaftliche Organisationen dürfen im Sinne des Gemeinnützigkeitsrechts nicht parteiähnlich sein, müssen aber auch nicht politisch neutral sein – dies würde ihre gesellschaftliche, historische und demokratische Funktion ad absurdum führen.
Die Auslegung des Neutralitätsgebots, wie wir sie in Ihrer Anfrage zur Kenntnis nehmen, kannten wir bisher von rechtsextremen Akteuren wie der AfD. Diese nutzen verzerrte Darstellungen von „Neutralität“, um die wehrhafte Demokratie zu delegitimieren und um zivilgesellschaftliche Initiativen, Organisationen und Akteure, aber auch Lehrerinnen und Lehrer, Wahlbeamte und Mitarbeitende von Behörden und öffentlicher Verwaltung einzuschüchtern. Ein solches Vorgehen kann nicht im Sinne der CDU/CSU sein. Denn sollte das von Rechtsextremisten bekannte Vorgehen nun auch im demokratischen Spektrum Schule machen, sähen wir die Grundfesten demokratischer Kultur, der freien Willensbildung und Meinungsäußerung in Gefahr.
Rechtsprechung zur Gemeinnützigkeit gebietet keine politische Enthaltsamkeit
Ihre Kleine Anfrage legt des Weiteren nahe, dass die Gemeinnützigkeit der betreffenden Organisationen entsprechend der Abgabenverordnung (§ 52 AO) in Frage gestellt werden müsse, weil öffentliche Einlassungen zu tagesaktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen, insbesondere jedoch die kritische Meinungsäußerung gegenüber einzelnen Parteien und deren Vertreterinnen und Vertretern, dem Gebot parteipolitischer Neutralität widerspräche. Dazu ist festzustellen, dass die gültige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs vom 20. März 2017 (Az.: X R 13/15), vom 10. Januar 2019 (Az.: V R 60/17) und vom 10. Dezember 2020 (Az.: V R 14/20) zwar eine parteipolitische Betätigung per se als gemeinnützigen Zweck ausschließt, aber die politische Betätigung gemeinnützigen Organisationen dann gemeinnützigkeitsrechtlich erlaubt ist, wenn die politische Betätigung dem satzungsgemäßen Zweck der Organisationen dient. Dies schließt auch die öffentliche Kritik an Parteien ein, deren Programmatik oder Handeln nach Auffassung der Organisationen partiell oder grundsätzlich den Werten, Normen und Zielen entgegenlaufen, die von den Organisationen in ihrem jeweiligen Handlungsfeld vertreten werden. Diese Zulässigkeit von Kritik muss gleichermaßen hinsichtlich demokratischer und antidemokratischer Parteien gelten und unabhängig davon, ob diese Kritik von den betreffenden Parteien selbst geteilt wird, insofern sie nicht straf- oder persönlichkeitsrechtlich beanstandet werden kann.
Der Widerspruch, die Empörung und Irritation, die sich in den Straßenprotesten und anderen öffentlichen Meinungsäußerungen der letzten Wochen Bahn brachen, mögen teilweise drastische Ausdrucksformen angenommen haben. Einerseits sind dafür aber nicht die in Ihrer Anfrage benannten Organisationen verantwortlich zu machen. Andererseits unterliegen zivilgesellschaftliche Organisationen in der Art, wie sie sich öffentlich äußern, generell nicht dem Mäßigungsgebot, das für staatliche Amtsträger sowie Beamte und Beamtinnen gilt.
Demokratie braucht eine starke Zivilgesellschaft
Eine lebendige Demokratie ist auf eine kritische Zivilgesellschaft angewiesen. Die historische Entwicklung zeigt, dass Versuche, NGOs durch administrative Maßnahmen zu schwächen, ein typisches Muster illiberaler Demokratien sind. Vergleichbare Strategien zur Diskreditierung kritischer Organisationen sind aus den USA unter Donald Trump, aus Russland unter Wladimir Putin, aus Ungarn unter Viktor Orbán oder aus Polen unter der PiS-Regierung bekannt. In Ungarn wurden zivilgesellschaftliche Organisationen gerade mit den Instrumenten des Steuerrechts angegriffen, indem sie als ausländisch finanzierte Organisationen stigmatisiert wurden. Dass sich auch in der kleinen Anfrage Bemerkungen zur ausländischen Finanzierung von NGOs finden lassen, ist daher umso besorgniserregender.
Statt eine unabhängige und kritische Zivilgesellschaft einzuschränken, ist es Aufgabe eines verantwortungsvollen Gesetzgebers, das Gemeinnützigkeitsrecht so zu modernisieren, dass zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie, Menschenrechte und Umwelt effektiver unterstützt wird. Dies wurde zuletzt von zahlreichen Rechtsexpert:innen und Wissenschaftler:innen gefordert.
Ihre Anfrage erweckt jedoch den Eindruck, dass insbesondere Organisationen, die sich kritisch gegenüber rechtspopulistischen oder demokratiefeindlichen Strömungen äußern, einer besonderen Prüfung unterzogen werden sollen. Eine solche selektive Betrachtung widerspricht unseres Erachtens dem Gebot der Gleichbehandlung und läuft Gefahr, demokratische Engagementstrukturen gezielt zu schwächen.
Wir bitten Sie daher eindringlich:
- Die Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft zu respektieren – Staatlich geförderte Organisationen dürfen sich im Rahmen ihrer satzungsgemäßen Ziele äußern, ohne dass ihnen pauschal Parteilichkeit unterstellt wird.
- Das Neutralitätsgebot richtig auszulegen – Eine verfassungsrechtliche Grundlage des Staates, geförderte Akteure auf politische Enthaltsamkeit und Meinungslosigkeit zu verpflichten, besteht nicht. Staatliche Förderung bedeutet keine inhaltliche Vereinnahmung.
- Keinen politischen Druck auf kritische Akteure auszuüben – Die Gemeinnützigkeit von Organisationen muss auf Basis rechtlich klar definierter und fairer Kriterien bewertet werden, nicht nach politischer Opportunität.
- Demokratiefördergesetz einführen – Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags hat 2013 parteiübergreifend, auch mit Stimmen der CDU/CSU, eine nachhaltige Demokratieförderung gefordert. Der Bund sollte Politische Bildung und Demokratiearbeit daher dauerhaft finanzieren und die Grundlage hierfür mit einem Demokratiefördergesetz schaffen.
Eine lebendige Demokratie ist auf eine kritische und engagierte Zivilgesellschaft angewiesen. Eine politische Einflussnahme auf NGOs, die sich für Grundrechte, Demokratie und den Rechtsstaat einsetzen, würde das Fundament unseres demokratischen Gemeinwesens untergraben. Wir appellieren stattdessen an den offenen, kritischen Dialog, die gegenseitige Toleranz und die Kooperation aller demokratischen Kräfte in Politik und Gesellschaft. Der Erosion demokratischer Kultur und dem Erstarken von Populismus und Rechtsextremismus kann nicht gegeneinander, sondern nur gemeinsam entgegengewirkt werden.
Mit besorgten Grüßen,
- Prof. Dr. Matthias Quent, Soziologe, Hochschule Magdeburg-Stendal
- Prof.’in Dr.’in Chantal Munsch, Sozialpädagogin, Universität Siegen
- Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl, Rechts- und Politikwissenschaftler, Hochschule RheinMain
- Dr. Daniel Mullis, Humangeograph, Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung Frankfurt am Main
- Prof. Dr. Stephan Lessenich, Goethe-Universität, Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main
- Benjamin Haas, M.A., Kulturanthropologe, Universität Siegen und Vorstand von Voluntaris – Verein zur Förderung von Wissenschaft und Forschung zu zivilgesellschaftlichem Engagement und Freiwilligendiensten e. V.
- Prof.in Dr.in Wibke Riekmann, Erziehungswissenschaftlerin, Hochschule Hannover
- Prof. Dr. Marc Schulz, Erziehungswissenschaftler, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften, TH Köln
- Prof. Dr. Léonie de Jonge, Politikwissenschaftlerin, Institut für Rechtsextremismusforschung der Universität Tübingen
- Prof.in Dr.in Esther Lehnert, Erziehungswissenschaftlerin, Alice Salomon Hochschule Berlin
- Prof.*in Dr.*in Heike Radvan, Erziehungswissenschaftlerin, Institut für Rechtsextremismusforschung der Universität Tübingen
- Prof. i.R. Dr. Benedikt Sturzenhecker, Arbeitsbereich Sozialpädagogik, Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg
- Jana Sämann, M.A., Erziehungswissenschaftlerin, Universität Siegen
- Prof.in Dr.in Sevasti Trubeta, Soziologin, Hochschule Magdeburg-Stendal
- PD Dr. phil. habil. Julia Roth, Universität Wien / Universität Bielefeld
- Prof. Dr. Juliane Karakayali, evangelische Hochschule Berlin
- Prof. Dr. Kira Kosnick, Europa-Universität Viadrina
- Prof. Dr. Bernd Belina, Geographie, Goethe-Universität Frankfurt
- Prof. Dr. Britta Schneider, Europa-Universität Viadrina
- Prof. Dr. Anja Steinbach, Institut für Erziehungswissenschaften, Europa-Universität Flensburg
- Dr. Jan Hutta, Universität Bayreuth
- Dr. Jenny Künkel, Universität Duisburg-Essen
- Prof.in Dr.in Wiebke Dierkes, Hochschule RheinMain
- Prof. i.R. Dr. Annita Kalpaka, HAW Hamburg
- Dr.in Lina Brink, Hochschule Magdeburg-Stendal
- Dr. Gala Nettelbladt, Bauhaus-Universität Weimar
- Dr. Sevda Can Arslan, Universität Paderborn
- Prof. Dr. Florian Sprenger, Ruhr-Universität Bochum
- Prof. Dr. Tomke König, Universität Bielefeld
- Prof. Dr. Lale Yildirim, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
- Dr. Timo Kaerlein, Medienwissenschaftler, Ruhr-Universität Bochum
- Prof. Dr. Julia Bee, Ruhr-Universität Bochum
- Prof. Dr. Michaela Köttig, Frankfurt University of Applied Sciences
- Prof. Dr. Ursula Birsl, Philipps-Universität Marburg
- Univ.-Prof. i.R. Dr. Birgit Sauer, Universität Wien
- u.v.m
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