Offener Brief an sächsische Staatsregierung | 30 Organisationen fordern „Recht auf Schule für Alle“
Autor_innen: Bündnis gegen Rassismus Sachsen
Derzeit warten mindestens 1500 Kinder und Jugendliche, die nach Sachsen migriert sind, bis über 10 Monate lang darauf, die Schule besuchen zu können.
Das Bündnis „Recht auf Schule für Alle in Sachsen“ fordert den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und den sächsischen Staatsminister für Kultus Christian Piwarz in einem Offenen Brief zur Umsetzung des Grundrechts auf Bildung für alle schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen im Freistaat auf.
In dem Offenen Brief beschreiben wir die strukturelle Diskriminierung von migrierten Schulpflichtigen und die sich daraus ergebenden Folgen für die betroffenen Schüler_innen und deren Familien.
Darüber hinaus formulieren wir Forderungen an die sächsische Staatsregierung.
Wir als Bündnis gegen Rassismus Sachsen sind Teil des Netzwerks „Recht auf Schule für Alle in Sachsen“.
Offener Brief
Fehlende Schulplätze: 1.500 in Sachsen lebende Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte können nicht zu Schule gehen. Bündnis „Recht auf Schule für Alle in Sachsen“ sieht Sächsische Staatsregierung in dringender Verantwortung, die Schulpflicht umzusetzen.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer,
Sehr geehrter Herr Kultusminister Piwarz,
Zum 1.4.2024 warteten sachsenweit 1.507 in Sachsen lebende Kinder und Jugendliche, die nach Deutschland migriert sind, auf einen Schulplatz.1 Die Schulpflicht wird in Sachsen damit nicht umgesetzt. Das Recht auf schulische Bildung wird verletzt und dem Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht nachgekommen. Das Bündnis „Recht auf Schule für Alle in Sachsen“ fordert Sie daher dringend auf: Gewährleisten Sie allen schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen einen Schulplatz!
Negative bildungsbezogene und soziale Folgen eines Schulausschlusses tragen in erster Linie die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit werden diese Schüler_innen mit Migrationsbiographie stark benachteiligt. Darüber hinaus hat das monatelange Warten auf einen Schulplatz weitreichende Auswirkungen auf die familiäre und soziale Situation der Schüler_innen und ihrer Angehörigen.
„Soziale Isolation und der Mangel an sinnstiftender Beschäftigung wirken sich auf die psychische Gesundheit der betroffenen jungen Menschen aus. Die Zunahme von Depressionen, Perspektivlosigkeit und auch Kindeswohlgefährdungen sind Folgen, die das Bündnis „Recht auf Schule für Alle in Sachsen“ überall im Freistaat wahrnimmt“, sagt Olga Sperling, Geschäftsführerin des Ausländerrats Dresden e.V. „Erheblich eingeschränkt sind darüber hinaus auch die Möglichkeiten der Sorgeberechtigten, an Deutsch- bzw. Integrationskursen teilzunehmen, Stellenangebote zu recherchieren oder einer Arbeit nachzugehen. Uns sind schon Klagen gegen das Landesamt für Schule und Bildung bekannt.“
Das Land Sachsen muss das Grundrecht auf Bildung umsetzen. Es gibt grundsätzliche Probleme: So muss die Ausbildung von pädagogischem Personal, der Bau von Schulen und die materielle Ausstattung vorausschauend an die Bevölkerungszahl – die Geburten- und Migrationsrate – angepasst werden. Die einzelnen Anlässe für Migrationsbewegungen mögen unterschiedlich gut vorhersehbar sein, aber dass Migrationsbewegungen aufgrund von Leid und Not in der Welt regelmäßig stattfinden, ist nicht überraschend. Migration war und ist Realität. Sie muss stets mitgedacht und bei allen Planungen berücksichtigt werden – schon aus Eigeninteresse der Menschen in Sachsen. Sachsen hat es bisher versäumt, das System Schule zu einer Institution weiterzuentwickeln, die konzeptionell, personell und materiell so ausgestattet ist, dass sie ihre Aufgaben auch im Selbstverständnis einer Migrationsgesellschaft verlässlich erfüllen kann.
„Es hat sich nun ein akuter Handlungsbedarf angestaut“, so Dr. Kristian Garthus-Niegel, vom Sächsischen Flüchtlingsrat e. V. “Es muss mehr Vorbereitungsklassen geben. Der Lehrermangel sollte verstärkt durch ausländische Lehrkräfte sowie solche, die bisher in der Schulverwaltung tätig sind, gedeckt werden. Eine migrationspädagogische Bildungsoffensive für alle sächsischen Lehrkräfte muss endlich starten! Ohne ein sofortiges und verantwortungsvolles Handeln gerät das Recht auf Bildung in Sachsen immer mehr unter Druck. Erfahrungsgemäß wird das zuallererst geflüchtete Kinder und Jugendliche treffen“ so Garthus-Niegel weiter.
„Mit der Handhabung, dass neu zugewanderten Schüler_innen über Monate hinweg ihr Recht auf schulische Bildung verwehrt bleibt, wird ein Indikator ersichtlich, der strukturellen und institutionellen Rassismus messbar macht“ sagt Juliane Wetendorf vom Bündnis gegen Rassismus Sachsen. „Darüber hinaus ist problematisch, dass die hiervon betroffenen Familien über geringe Ressourcen zur Einforderung ihrer Rechte verfügen“, so Wetendorf weiter. „Müssten Schüler_innen privilegierterer Gesellschaftsgruppen langfristig auf ihren Schulplatz verzichten, wäre der gesellschaftliche Aufschrei groß. Im Falle neu zugewanderter Schüler_innen bleibt dieser Aufschrei aus. Vielmehr werden die Betroffenen selbst immer wieder für die Situation verantwortlich gemacht.“
Die unterzeichnenden Organisationen des Bündnisses kritisieren ausdrücklich jegliche Schuldzuweisungen an die neu zugewanderten Kinder, Jugendlichen und deren Familien. „Solche Sündenbockmechanismen stärken den rassistischen Diskurs in Sachsen und spielen extrem rechten Parteien in die Hände“, so Juliane Wetendorf weiter.
Forderungen an das Sächsische Staatsministerium für Kultus:
Forderungen an das Sächsische Staatsministerium für Kultus:
A) Setzen Sie das Recht auf Schule für Alle in Sachsen um!
- Jede_r schulpflichtige junge Mensch in Sachsen hat einen gesetzlich geschützten Anspruch auf schulische Bildung im Regelschulsystem. Gewährleisten Sie allen schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen in Sachsen schnell einen Schulplatz!
B) Schließen Sie die akute Schulplatzlücke ab sofort und verantwortungsvoll!
- Stellen Sie sicher, dass alle Schüler_innen in gleicher, hoher Qualität beschult werden und installieren Sie keine qualitätsreduzierten Schulangebote!
- Die Zahl der Vorbereitungsklassen muss bedarfsgerecht erhöht und diese gleichmäßig auf alle Schulen je Schulform verteilt werden! Eine Ungleichverteilung erhöht die Folgen der sozialen Ungleichheit für alle Kinder und führt zu einer Überlastung des Systems Schule als Ganzes.
- Schaffen Sie schnell mehr Schulplätze, zum Beispiel durch Sonderzuschüsse, an Freien Schulen!
- Ermöglichen Sie kurzfristig die dauerhafte Anstellung von Lehrkräften mit im Ausland erworbenen, in Sachsen bisher nicht anerkannten Lehramtsabschlüssen, ggf. durch Öffnung des Seiteneinstiegsprogramms!
- Entlasten Sie die Lehrkräfte von Verwaltungsaufgaben durch mehr unterstützendes Personal an Schulen. Holen Sie Lehrer_innen, die gegenwärtig für andere Aufgaben an Ministerien und Ämter abgeordnet sind und nicht lehren, zurück an die Schulen!
- Starten Sie eine Bildungsoffensive zur Aneignung von Kompetenzen im Bereich Deutsch als Zweitsprache verpflichtend für alle sächsischen Lehrkräfte und Lehramtsstudierenden!
- Beteiligen Sie kompetente Fachverbände (Wohlfahrtsverbände, Lehrer_innenVerbände u.w.m.) an der diversitätssensiblen Weiterentwicklung des sächsischen Bildungssystems, sodass es für eine offene Migrationsgesellschaft gestärkt ist!
- Stellen Sie den Schutz von Schüler_innen vor Diskriminierung und Rassismus sicher, indem Sie wirksame Maßnahmen entwickeln, wie zum Beispiel die Verankerung eines Diskriminierungs- und Rassismus-Schutzes im Sächsisches Schulgesetz und die Einführung verpflichtender Schutzkonzepte!
C) Migration ist Normalität: Diskriminierungsfreien Bildungsdiskurs fördern
- Verzichten Sie in öffentlichen Positionierungen darauf, „die Migration“ und / oder Kinder und Jugendliche nicht-deutscher Herkunft zur Ursache von Problemen im Schulsystem zu erklären!
- Um ein Lernumfeld zu schaffen, in dem alle Schüler_innen unabhängig von der Herkunft gleichberechtigt lernen und leben können, müssen die Bedarfe migrierter Schüler_innen in der Bildungspolitik bereichsübergreifend berücksichtigt werden! Das stärkt eine Antidiskriminierungskultur im sächsischen Bildungssystem.
Unterzeichner_innen
Das „Bündnis Recht auf Schule für Alle in Sachsen“ ist ein Zusammenschluss aus lokalen und überregional tätigen Organisationen, Vereinen und öffentlichen Beauftragten, der sich vor dem Hintergrund der akuten Schulplatzlücke und der damit einhergehenden Gefahr der strukturell hervorgerufenen Kindeswohlgefährdung gegründet hat. Das Bündnis versteht sich als Interessenvertretung von jungen Menschen und deren Familien mit Migrationsgeschichte in prekären Lebenslagen.
Antidiskriminierungsbüro Sachsen e.V.
AWO Kinder- und Jugendhilfe gemeinnützige GmbH
AWO Landesverband Sachsen e.V.
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) e.V.
Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen für Bildung & Teilhabe (bbt)
Bundesverband russischsprachiger Eltern (BVRE) e.V.
Bündnis gegen Rassismus Sachsen
DaMigra e.V. Dachverband der Migrant_innen-Organisationen
das BOOT gGmbH Sozialpsychiatrisches Zentrum
Deutsche Jugend in Europa (djo), Landesverband Sachsen e.V.
Entwicklungspolitisches Netzwerk Sachsen (ENS) e.V.
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Sachsen
Landesarbeitsgemeinschaft Mädchen* und junge Frauen* in Sachsen e.V.
Landesarbeitsgemeinschaft Politisch kulturelle Bildung (PoKuBi) Sachsen e.V.
Landeselternrat Sachsen (LER)
Kinderschutzbund Landesverband Sachsen e.V.
Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Sachsen e.V.
RAA Sachsen e.V.
Sächsischer Flüchtlingsrat e.V.
Afropa e.V.
AGIUA e.V. Chemnitz
AJZ Streetwork – Mobile Jugendarbeit des Alternativen Jugendzentrum Chemnitz e.V.
Ausländerrat Dresden e.V.
Cabana – Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte in Dresden im Ökumenischen Informationszentrum e.V.
FAK MenOr – Facharbeitskreis Menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit
Kulturbüro Dresden – Büro für freie Kultur- & Jugendarbeit e.V.
riesa efau. Kultur Forum Dresden e.V.
Omse e.V. – eingetragener gemeinnütziger Verein für Lebenskultur und Gemeinsinn
Willkommen in Löbtau e.V.
Marion Gemende / Holger Simmat – Sprecher*innen der Landesarbeitsgemeinschaft Migrationssozialarbeit / Flüchtlingssozialarbeit in Sachsen
Dr. Michael Dobstadt – Vertretung der Professur für Deutsch als Fremdsprache, Institut für Germanistik und Medienkulturen, TU Dresden
Kristina Winkler – Integrations- und Ausländerbeauftragte, Landeshauptstadt Dresden
Alexander Klaus – Beauftragter für Migration und Integration, Landkreis Görlitz
Yvonne Böhme – Beauftragte für Integration und Migration, Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge
1 Das Sächsische Landesamt für Schule und Bildung, Auskunft auf Anfrage