Mit Bilal auf dem Weg zur professionellen Hilfe – Leitfaden für traumatisierte Migranten und Begleitungen
Autor_innen: Deutsch-Spanische Freundschaft e.V.
Sie haben oft Schreckliches vor oder während ihrer Flucht erlebt, leiden im sicheren Deutschland an seelischen und/oder körperlichen Schmerzen – und wissen oft nicht, wohin in ihrer Not. Eine neue Veröffentlichung will Abhilfe schaffen: „Bilal“ heißt die jetzt erschienene 52seitige Broschüre, die in den Sprachen Deutsch, Arabisch und Spanisch allen Betroffenen den schwierigen Weg zur professionellen Hilfe weisen möchte. Herausgeber des niedrigschwelligen Angebots, das seine Leser mit einer bebilderten Geschichte neugierig macht, ist der Leipziger Verein Deutsch-Spanische Freundschaft e.V. (DSF).
Gedacht ist das Heft zum einen für die Betroffenen, zum anderen für Menschen, die im privaten oder beruflichen Umfeld mit Migranten zu tun haben, darunter neben ehrenamtlichen Helfern zum Beispiel Lehrer, Hausärzte, Nachbarn oder Arbeitskollegen. Zum Einstieg wird die farbig illustrierte Geschichte von dem geflüchteten Bilal erzählt, der zwar in Deutschland in Sicherheit ist vor Krieg, organisierter Gewalt oder Zwangsmaßnahmen, der aber unter Depressionen und Albträumen leidet. Ihm wird dank engagierter Helfer professionelle Hilfe zuteil, so dass sich seine Situation bessert. Er erkennt: Nicht ich bin verrückt, sondern die Umstände, denen ich ausgesetzt war. In einem zweiten Teil werden Fachbegriffe erläutert wie Symptom, Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie zum Beispiel der therapeutische Ansatz der „traumafokussierten Psychotherapie“, der von vielen Experten empfohlen wird. Daran schließt sich ein ausführliches Verzeichnis möglicher Anlaufstellen für Betroffene in Leipzig sowie von bundesweit zur Verfügung stehenden Print- oder Online-Angeboten an.
„Viele traumatisierte Migranten kommen aus Kulturkreisen, in denen psychotherapeutische Angebote kaum existieren“, erläutert Marisa Sanchez, Vorstandsvorsitzende des Leipziger Vereins Deutsch-Spanische Freundschaft e.V. „Die Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele sind ihnen häufig nicht bekannt“.
So leiden die Betroffenen – oft junge Männer – vielleicht an Symptomen wie Bauch- und Kopfschmerzen, Antriebslosigkeit, Appetitmangel oder Konzentrationsschwäche, suchen eventuell noch einen Hausarzt auf und lassen sich Tabletten verschreiben – aber oft bleibt es bei immer wiederkehrenden Beschwerden. Und dem deutschen Lehrer, Arbeitskollegen oder Chef fällt vielleicht auf, dass der Betroffene nicht so „funktioniert“ wie erwartet. Die Reaktionen reichen dann von Mitgefühl bis hin zu Rat- und Verständnislosigkeit, im schlimmsten Fall Ablehnung.
Ziel der Broschüre ist es, sowohl den Betroffenen als auch besorgten Mitmenschen Wege aus der Misere zu weisen.
„Gerade für die junge Männer aus arabischen oder afrikanischen Ländern ist es oft schwierig, einen Psychologen aufzusuchen“, so Sanchez. „Es ist ihnen peinlich, die Hemmschwelle ist groß. Wir möchten Ihnen erklären, dass nicht sie selbst das Problem sind, sondern die widrigen Umstände, denen sie ausgesetzt waren. Wir wollen ihnen Mut machen, sich professionelle Unterstützung zu holen.“
Die Initialzündung für das Projekt kam aus einem Kreis engagierter Ehrenamtler, die sich teilweise seit Jahren um Flüchtlinge kümmern. Immer wieder erlebten und erleben sie, dass ihre Schützlinge in einem Teufelskreis aus wiederkehrenden körperlichen und seelischen Beschwerden gefangen sind. Einer erfolgreichen Integration, die sowohl sie selbst als auch ihr Umfeld eigentlich anstreben, steht dies oft im Weg. Auf der Suche nach Hilfsmöglichkeiten stocherten die Freiwilligen oft im Nebel, denn für Migranten geeignete und zugängliche Therapieangebote sind rar gesät. Unter der Regie des Vereins DSF, der sich seit Jahren in der Arbeit mit Migranten engagiert, und unter der Beteiligung von Fachleuten entstand deshalb das Projekt „Bilal“.
„Wir wünschen uns, dass möglichst viele Migranten davon profitieren und den Mut fassen, sich professionelle Unterstützung zu holen“, so Sanchez. Bei geringen Deutschkenntnissen gebe es die Möglichkeit, einen Sprachmittler einzubeziehen.
Die Broschüre (Startauflage: 3000) wird ab sofort in Anlaufstellen für Migranten in und um Leipzig zur kostenlosen Mitnahme ausliegen. Darüber hinaus ist eine Online-Version, die einen noch ausführlicheren Info-Teil enthält, unter www.dsf-leipzig.de/trauma abrufbar. Die Sprachen Arabisch und Spanisch wurden gewählt, weil ein Großteil der Geflüchteten in Leipzig aus arabischsprachigen Ländern stammt. In jüngster Zeit kommen auch viele Migranten aus Venezuela nach Leipzig, weil sie bundesweit dem Land Sachsen zugewiesen werden. Möglich wurde das Projekt durch viel ehrenamtliches Engagement und die großzügige Förderung der Postcode Lotterie.
Hintergrund:
Experten fordern schnelle Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge
Experten schätzen, dass mehr als 60 Prozent der erwachsenen und über 40 Prozent der jugendlichen Flüchtlinge Gewalterfahrungen machen mussten. Die von ihnen erwarteten Integrationsleistungen können sie deshalb oft nicht oder nur eingeschränkt erbringen, was wiederum bei vielen Deutschen auf Unverständnis stößt. Die Autoren der Wissenschafts-Akademie Leopoldina (Halle) raten deshalb in ihrer Studie „Traumatisierte Flüchtlinge – schnelle Hilfe ist jetzt nötig“ dazu, das psychotherapeutische Angebot für Geflüchtete zügig zu erweitern.
Viele Migranten seien dauerhaften Belastungen ausgesetzt gewesen: Neben Armut zählen dazu organisierte Gewalt, Verfolgung, Verschwinden oder Tod von Familienmitgliedern und Freunden, sexuelle und körperliche Gewalt sowie anhaltende existentielle Unsicherheit. Dies führe häufig zu Folgekrankheiten wie posttraumatischen Belastungsstörungen, darunter wiederkehrende Albträume und Depressionen und/oder körperlichen Symptome wie chronische Entzündungen oder Autoimmunkrankheiten.
„Die vielen Flüchtlinge mit schweren psychischen Belastungen benötigen dringend Hilfen. Sofortiges Handeln ist erforderlich“, mahnen die Autoren der2018 erschienenen Studie. Anderenfalls drohten gravierende Konsequenzen, sowohl für die Betroffenen als auch die aufnehmende Gesellschaft. So seien traumatisierte Migranten oft nicht in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen, vertrauensvolle soziale Beziehungen einzugehen oder eine neue Sprache zu erlernen, was für die Integration aber unabdingbar sei. Schließlich könnten traumatische Belastungen zu dissozialem Verhalten führen, z.B. Aggressionen (gegen andere oder sich selbst) oder weitgehendem Rückzug. „Bleiben Ursachen des dissozialen Verhaltens wie die psychischen Beeinträchtigungen der Flüchtlinge unerkannt und unbehandelt, kann dies (. . .) zu Veränderungen des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft führen“, warnen die Autoren.
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