Autoritäre Prävention. Abgründe vorhersagender Polizeiarbeit
Robert Feustel
In einer blockierten Gesellschaft, in der alle schuldig sind,
Hunter S. Thompson (Fear and Loathing in Las Vegas)
besteht das einzige Verbrechen darin, sich erwischen zu lassen.
Ein sorgenvoller Blick in die Zukunft ist weder neu noch pauschal falsch. Wer heute vorsorgt, ist morgen besser aufgestellt. Im Modus der Prävention hatte sich schon mit der Aufklärung ein Blick nach vorn etabliert, der unter anderem über Hygiene das Leben verbessern und verlängern wollte.1 Länger schon werden Abgründe oder Untiefen präventiver Praxis diskutiert, vor allem wenn sie staatlich organisiert und vorgeschrieben sind. Im besten Fall jedoch ist Prävention eine gute Sache. Das gilt meist dann, wenn sie eine Praxis, eine Verhaltensweise nahelegt, statt unvermittelt Vorschriften zu machen.
Während also nicht jeder Versuch, die Zukunft vorherzusagen und sich möglicherweise auf Kommendes einzustellen, politisch problematisch sein oder gar scheitern muss, haben wir es dieser Tage mit einer etwas anderen, überdrehten und eskalierenden Idee von Prävention zu tun: Seit die Informationstheorie und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft, heute zumeist als Digitalisierung verschlagwortet, den Zeitgeist prägen, ist Prävention weniger eine vorausschauende Haltung, die Kommendes bedenken und in der Gegenwart agieren will. Wir haben es heute vielmehr mit einer vielfältigen Praxis der Berechnung zu tun. Maschinen sollen es also richten. Ihnen eilt der Ruf voraus, nicht nur zu erahnen oder zu spekulieren, was kommen wird, sondern amtlich, sachlich und unbestechlich die Zukunft ziemlich exakt vorherzusagen.
Solche technisch modellierten Vorhersagen kommen im Krankheitsfall – also wenn es um Diagnosen, Heilungsperspektiven und folglich um Behandlungspläne geht – genauso zum Einsatz wie bei rechtlichen Fragen, etwa bei der vorzeitigen Haftentlassung und jeweiligen Rückfallrisiken.2 Aktienkurse werden mit den entsprechenden Techniken modelliert oder Klimamodelle erstellt. Wann immer die Außenwelt Gegenstand ist, sind solche Praktiken eher nützlich und politisch tendenziell harmlos. Es spricht nicht viel dagegen, mit Big Data und der Hilfe von Maschinen die klimatischen Veränderungen einzuschätzen. Der Skandal in diesem Feld ist offenkundig, dass die Ergebnisse immerzu einer zur Religion umdefinierten Wirtschaft untergeordnet werden. Wenn allerdings das Verhalten von Menschen und sozialen Gruppen berechnet werden soll, ist Gefahr im Verzug. Ein Beispiel für die ausufernden, aber rechtlich und politisch abgründigen Praktiken der Berechnung liefert die vorhersagende Polizeiarbeit.
Predictive Policing, so der englische Name, versucht, auf der Grundlage von großen Datenmengen die Orte zu errechnen, an denen kriminelle Handlungen stattfinden werden. Mit diesem „Wissen“ sollen Polizeieinheiten ausgestattet werden, die dann das anstehende Verbrechen unterbinden, bevor es stattfindet. Dafür werden häufig sogenannte Hotspots definiert, also vor allem urbane Räume, in denen die Wahrscheinlichkeit besonders hoch ist, dass etwas passiert. Das Ziel solcher Praktiken ist es selbstredend, mit Berechnungen Kriminalität restlos zu tilgen.
Wer Verbrechen immer schon verhindert haben will, bevor sie passieren, muss flächendeckend operieren und noch im letzten Winkel seiner Autorität Ausdruck verleihen.
Zwei zentrale Einwände gegen die vorhersagende Polizeiarbeit werden in diesem Beitrag zur Debatte stehen. Erstens geht der vermeintlich exakten Berechnung von Hotspots und kriminellen Aktivitäten die falsche Annahme voraus, die Datensätze seien vollständig und wertfrei. Nur dann wäre es statthaft und plausibel, die Berechnungen zur Grundlage zu machen. Tatsächlich allerdings verfehlen polizeiliche Datensätze beide Eigenschaften um Längen. Zudem provozieren die Vorhersagen und die nachfolgenden polizeilichen Praktiken eine Art Bestätigungsfehler und generieren anschließend verzerrte Datensätze, die allerdings für objektiv gehalten werden und ihrerseits das System beeinflussen. Zweitens: Die Exekutive maßt sich an, potentielle Gefahren schon zu beseitigen, bevor sie zu irgendeiner Form von Kriminalität, bevor sie Tatsache werden können. Das unterläuft rechtsstaatliche Prinzipien und drängt systematisch, also jenseits politischer Absichten, ins Autoritäre: Wer Verbrechen immer schon verhindert haben will, bevor sie passieren, muss flächendeckend operieren und noch im letzten Winkel seiner Autorität Ausdruck verleihen. Das von Maschinen errechnete und polizeilich übersetzte Futur II („eine Straftat wird verhindert worden sein“) führt unmittelbar ins Reich systemzeitlicher Loops und damit zu totaler Kontrolle. Es trocknet liberale wie rechtsstaatliche Prinzipien aus.
1Siehe zu diesem Thema vor allem Leanza (2017) und Sarasin (2001), wenn es um Biopolitik geht.
2Das ist vor allem in den USA der Fall, vgl. Fry (2019).
>> Seite 2 | Die Mathematik des Verbrechens
Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“
2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0