Wer Menschen verwurzelt, entmündigt sie

Warum Heimat eine autoritäre Versuchung ist und wir uns ihr entziehen müssen

Thorsten Mense

Heimat ist „der Duft der Bratwurst“, wie man in einem Feature des Deutschlandfunk hören kann, aber auch „der Mond, der den Wanderer in der Nacht begleitet“, so Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung. Vor allem aber ist es „ein gutes Gefühl“. „Heimat braucht Klimaschutz“, erklärt uns Greenpeace, „Umweltschutz ist Heimatschutz“ die NPD, und Kaufland möchte, dass wir im Supermarkt „Heimat neu entdecken“. In unzähligen Feuilletondebatten, Radiofeatures und Talkshows begeben sich die Deutschen schon seit ein paar Jahren auf die Suche nach Heimat. Seit 2018 gibt es auch ein Heimatministerium in Deutschland und es werden Millionen Steuergelder in die Förderung der Heimatverbundenheit investiert. Begleitet wird die politische wie publizistische Heimattümelei von einer popkulturellen Mobilmachung, von deren Ausmaß ein Blick in die Bestsellerlisten,1 die Verkaufszahlen von Trachtenmode oder die ausverkauften Stadien bei Konzerten des „Volks-RockʼnʼRollers“ Andreas Gabalier nur eine Ahnung vermitteln kann. Selbst die „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ in Stuttgart laufen seit 2016 unter dem Motto „Heimat“, und Politiker:innen aller Couleur überbieten sich darin, ihre Heimatliebe zu betonen.

„Wir lieben dieses Land! Es ist unsere Heimat! Für diese Heimat werden wir kämpfen!“ Dieser nationalistische Schlachtruf stammt nicht etwa von der Alternative für Deutschland (AfD), sondern aus einer Rede der Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, beim kleinen Bundesparteitag im Jahr 2017. In Umfragen bezeugen über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung, dass sie mit „Heimat“ etwas Positives verbinden. In Sachsen liegen diese Umfragewerte noch etwas höher. Auch hier trifft man überall auf sie: Beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR), der sich selbst „Heimatsender“ nennt,2 bei Dresdens Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 unter dem Motto „Neue Heimat“ und in der Landesverfassung, in der das „Recht auf Heimat“ festgeschrieben ist – ohne näher zu definieren, was das eigentlich bedeutet. Woher kommt dieser Boom der Heimat, der seit ein paar Jahren die Politik, den Kulturbetrieb, die Medien und die Werbung erfasst hat? Was steckt dahinter? Und was ist das Gefährliche daran?

Identitätsanker gegen Entfremdung und Unsicherheit

Fragen der Zugehörigkeit und Identität haben in den letzten Jahren weiter an Bedeutung gewonnen. Es ist eine Reaktion auf die Erfahrung der Entfremdung und sozialen Desintegration, die moderne Konkurrenzgesellschaften prägt. Aber auch konkrete Ereignisse wie die globale Finanzkrise ab 2007/2008, der Abbau sozialer Sicherungssysteme im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung und die zunehmenden Migrationsbewegungen lassen das Bedürfnis wachsen nach identitätsstiftenden, natürlichen Solidargemeinschaften und autoritären Krisenlösungsstrategien. So schreibt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer:

„Autoritäre Versuchungen sind vor diesem Hintergrund vor allem als Reaktionen auf individuellen oder gesellschaftlichen Kontrollverlust zu interpretieren. Sie erzeugen eine Nachfrage nach politischen Angeboten, die darauf abzielen, die Kontrolle wiederherzustellen, und zwar durch die Ausübung von Macht und Herrschaft sowie über Ausgrenzung und Diskriminierung bzw. gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.“3

Hierin liegt der globale Erfolg rechter Parteien, Bewegungen und Akteur:innen begründet: In einer Welt, in der nichts mehr sicher scheint, weder das Geld auf der Bank noch der Arbeitsplatz, vermitteln sie „das Bild einer sicheren Festung“4 durch Nation, „Rasse“ oder auch Geschlecht (genauer: Männlichkeit). Die Zugehörigkeit zu diesen als natürlich wahrgenommenen Kollektiven gilt als nicht verhandelbar, da sie – und die damit verbundenen Privilegien – den Mitgliedern qua Geburt zustehen. Die darauf aufbauende kollektive Identität dient als Schutzraum gegenüber der Unsicherheit und Unbeständigkeit der Moderne. Sie bindet die Menschen im Konkurrenzkampf aneinander und wird zugleich gegen die Konkurrenz in Stellung gebracht. Wilhelm Heitmeyer spricht von „Identitätsankern“,5 die den Menschen in krisenhaften Zeiten Halt geben. Anders ausgedrückt: Wenn man schon nicht weiß, wohin es geht, will man wenigstens wissen, woher man kommt.


Wenn man schon nicht weiß, wohin es geht, will man wenigstens wissen, woher man kommt.


Der Nation als vermeintlichem Naturkollektiv kommt dabei eine besondere Rolle zu. Denn das Nationale ist auch im 21. Jahrhundert das grundlegende Struktur- und Ordnungsprinzip unserer Gesellschaften und zugleich die machtvollste Quelle kollektiver Identität. Die Vorstellung einer Welt, die aus Völkern und Nationen besteht, prägt die Wahrnehmung der Menschen ebenso wie die Institutionen moderner Staatlichkeit. Das drückt sich aus in Nationalstaaten, in Grenzen, im Pass in unserer Hosentasche, in der Migrationspolitik und darin, wer wählen darf und wer Anspruch auf Leistungen des Sozialstaates hat. Diese nationale Ordnung spiegelt sich im Nationalismus als Bewusstseinsform, also als eine spezifische Art und Weise, die Welt zu sehen und sich und andere in ihr zu verorten. Wir alle kennen die Frage „Woher kommst du?“, sei es im Urlaub oder wenn man nicht dem vorherrschenden Bild des Deutschen entspricht. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass die nationale Zugehörigkeit deine Essgewohnheiten, deine sportlichen Interessen und den größten Teil deiner Persönlichkeit bestimmt – eben deine Identität ist. Zugleich integrieren sich die Menschen durch die Identifikation mit der Nation in das vermeintlich naturgegebene Kollektiv, werden Teil von etwas Großem und Überzeitlichem und haben so eine Stimme in der Welt, die ihnen sonst versagt ist.

Die Nation ist aber kein Club, zu dem jede:r Zutritt hat. Nationale und allgemeiner kulturelle und ethnische Identität hat auch immer den Zweck, Zugehörigkeit zu einem Privileg zu machen. Wer dazugehört und dazugehören darf, ist keine freie Entscheidung des Individuums, sondern des Staates und der Dominanzgesellschaft – und damit eine Frage von Gewalt und Autorität.

Nationale Identität und Gemeinschaftsvorstellungen an sich bauen immer auf der Unterscheidung von „Wir“ und „die Anderen“ auf: Auf der Bestimmung und Markierung des Fremden, Nichtdazugehörigen. Je ethnischer diese Gemeinschaft definiert wird, desto strikter sind die Grenzziehungen und desto ausgrenzender ist die darauf aufbauende Praxis. Aber auch ein offenes Verständnis von Nation löst die Dynamik von Inklusion und Exklusion nicht auf. So ist das deutsche Nationalitätskonzept, zum Beispiel im Staatsbürgerschaftsrecht und in der Frage, wer offiziell „deutsch“ ist oder sein darf, in den letzten Jahrzehnten zweifelsohne durchlässiger geworden. Das hat die Grenzen der Zugehörigkeit aber nur verschoben – und diejenigen, die weiterhin außen vor bleiben, trifft es umso härter.


12018 wurden in Deutschland über 400 Bücher veröffentlicht, die „Heimat“ im Titel tragen.

2Verschiedene Formate des MDR widmen sich der „Heimat“ und dem Aufbau einer „mitteldeutschen“ Identität: „Unsere köstliche Heimat“, „Zeigt uns eure Heimat“, „Meine Heimat“, „Ein Platz namens Heimat“ u. a.

3Heitmeyer (2018): 84.

4Adamczak (2019).

5Vgl. Heitmeyer (2018).

>>Seite 2 | Heimat ist das neue Vaterland


Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

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Redaktion TolSax

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