Ziviler Ungehorsam: Demokratien als riskante Ordnungen

4. Über zivilen Ungehorsam als Politik

Während wir sagen können, dass Gehorsam und Politik nicht zusammengehören, haben wir eine Reihe an Argumenten, warum ziviler Ungehorsam zum politischen Handeln gehört. Ziviler Ungehorsam geht erstens bei Arendt aus der elementaren Idee des freiwilligen Zusammenschlusses von Gleichen hervor. Diejenigen, die den Gehorsam verweigern, sind Mitglieder einer Gruppe von Gleichen, die sich zusammengetan haben, um für eine bestimmte Sache zu kämpfen.


Ohne Dissens hätten wir eine homogene Totalität, die mit Demokratien nicht vereinbar ist.


Zweitens gehören Ungehorsam und Pluralität unabdingbar zusammen. Im Akt des zivilen Ungehorsams wird der Dissens in die Öffentlichkeit gebracht. Ohne Dissens hätten wir eine homogene Totalität, die mit Demokratien nicht vereinbar ist. Aber auch die Handelnden selber sind durch diese Pluralität gekennzeichnet, weil vor dem Akt der Einigung immer auch die Verschiedenheit liegen muss: „Das Prinzip der Gleichheit, das den öffentlichen Bereich beherrscht, kann überhaupt nur von Ungleichen realisiert werden.“34 Es braucht die vor dem und durch das Recht gleichgestellten Ungleichen, um immer auch das Andere in der Politik, die Unterbrechung und die Nichtübereinstimmung im politischen Bereich sichtbar machen zu können.

Ungehorsam setzt drittens das eigenständige Urteilen voraus. Der Prozess des Denkens hinterfragt und reflektiert das Gegebene. Bereits im Denken ist die Idee enthalten, dass alles auch immer anders sein kann. Es ist also kein besonderes Kennzeichen des zivilen Ungehorsams: „Alles Denken unterminiert tatsächlich, was immer es an starren Regeln, allgemeinen Überzeugungen etc. gibt. Alles, was sich im Denken ereignet, ist einer kritischen Überprüfung dessen, was ist, unterworfen.“ Insofern sei das Denken ein „gefährliches Unterfangen“.35

Viertens ist die Verantwortung unmittelbarer Bestandteil des zivilen Ungehorsams, denn die Beteiligten übernehmen die Verantwortung für die Regelverletzung und gehen das Risiko der Strafe ein.

Fünftens steht der zivile Ungehorsam für die Freiheit. Denn er schließt den potentiellen Neuanfang ein, er bezieht sich auf die Macht der Vielen, die im Zusammenhandeln entsteht und er verweist auf Alternativen, die es in der Politik immer geben muss.


…bezieht sich auf die Macht der Vielen, die im Zusammenhandeln entsteht und er verweist auf Alternativen, die es in der Politik immer geben muss.


5. Was bleibt vom Gehorsam in der Politik?

Was aber bleibt vom Gehorsam in der Politik? Die Auseinandersetzung mit dem Begriff des zivilen Ungehorsams hält ein wichtiges Argument bereit. Arendt schreibt in ihrer Auseinandersetzung mit Adolf Eichmann: „Folglich sollten diejenigen, die mitmachten und Befehlen gehorchten, nie gefragt werden: ‚Warum hast Du gehorcht?‘, sondern: ‚Warum hast Du Unterstützung geleistet?‘“36 Denn worauf es ihr ankommt, ist

„die Einsicht, daß kein noch so starker Mensch jemals irgendetwas Gutes oder Schlechtes ausführen kann ohne die Hilfe anderer, die das Vorhaben verwirklichen. […] Diejenigen, die ihm zu gehorchen scheinen, unterstützen in Wirklichkeit ihn und sein Unternehmen. Ohne derartigen ‚Gehorsam‘ wäre er hilflos.“37

Befolge ich also ein Gesetz, dann gehorche ich nicht, sondern unterstütze es bzw. erkenne ich an, dass es durch ein legitimes Verfahren zustande gekommen ist. Arendt hebt hier die Verantwortung hervor, die aus der menschlichen Freiheit entsteht. Im Gegensatz zum Gehorsam verweist die Unterstützung auf das aktive Tun, das aktive Anerkennen einer Ordnung, einer Handlung: „Wenn ich den Gesetzen des Landes gehorche, dann unterstütze ich in Wirklichkeit dessen Verfassung. Rebellen und Revolutionäre, die nicht mehr gehorchen, weil sie ihr stillschweigendes Einverständnis aufgekündigt haben, machen diesen Sachverhalt ganz offenkundig.“38

In den Akten des zivilen Ungehorsams entzieht eine Gruppe von Menschen diese Unterstützung und setzt in ihrem Handeln einen Prozess der Neukonstitution demokratischer Ordnungen in Gang, der als revolutionärer Geist Demokratien zu riskanten Ordnungen macht. Damit liegt die Bedeutung der Gehorsamsverweigerung, wie sie zum Beispiel durch Carola Rakete verkörpert worden ist, nicht nur im Bereich einer humanitären Aktion. Sondern sie tragen dazu bei, Demokratien in Bewegung zu halten.39


34 Arendt (1981 [1967]): 272.

35 Arendt (1996 [1973]): 123.

36 Arendt (1989 [1964]): 97.

37 Ebd.: 96.

38 Ebd.

39Schulze Wessel (2018).


Zur Autorin

PD Dr. Julia Schulze Wessel hat in den letzten Jahren die Professuren für Politische Theorie und Ideengeschichte an den Universitäten Leipzig und Dresden vertreten. Seit 2019 ist sie Mitbegründerin und Vorstandsmitglied von anDemos – Institut für angewandte Demokratie- und Sozialforschung e. V. in Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demokratietheorie, Grenzen der Demokratie, Partizipation, Flucht und Migration.

>> Seite 5 | Literatur


Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

Zum Inhaltsverzeichnis | Download | Bestellung

Redaktion TolSax

Ihr möchtet das Netzwerk auf dieser Webseite und im monatlichen Newsletter über Eure Projekte, Termine, Analysen oder Materialien informieren? Schickt uns Eure Infos!

Mastodon