Wer Menschen verwurzelt, entmündigt sie
Heimat ist das neue Vaterland
Auch Heimat ist solch ein „Identitätsanker“ und hat als Gemeinschaftsvorstellung auf vielen Ebenen Funktionen übernommen, die zuvor die Nation innehatte. Denn die Nation ist Gemeinschaftsvorstellung und rationale Form des Zusammenlebens (Staatsnation) zugleich. Das noch immer weit verbreitete Bild der deutschen Nation als weiße deutsche Abstammungsgemeinschaft ist aber in Bedrängnis geraten, sowohl durch die Realität der postmigrantischen Gesellschaft als auch durch die Reform des (seit 1913 geltenden) Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000, in dem das bis dato geltende Blutsrecht (Ius sanguinis) erweitert wurde durch das Territorialprinzip (Ius soli), also nun auch Menschen ohne deutschen „Stammbaum“ als Deutsche geboren werden können. Zugehörigkeit und Identität werden nun nicht mehr primär als Fragen der Nationalität, sondern in der Heimatdebatte diskutiert.
Dabei wird mit großer Vehemenz ein weltoffener, pluralistischer Heimatbegriff von einer ausgrenzenden, traditionalistischen bis rassistischen Definition differenziert. So forderte Bundespräsident Frank Walter Steinmeier in seiner Ansprache zum Tag der Deutschen Einheit 2017: „Diese Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ,Wir gegen Die‘, als Blödsinn von Blut und Boden.“6 Jedoch handelt es sich bei der „Blut und Boden“-Konstruktion nicht um rechte Umdeutungen eines eigentlich neutralen, harmlosen Begriffs. Rechte Heimatkonzeptionen, wie sie zum Beispiel von der AfD oder der neofaschistischen „Identitären Bewegung“ formuliert werden,7 können vielmehr als Beispiel der Kontinuität völkischen Denkens in der Bundesrepublik angesehen werden, das sich von Beginn an in der deutschen Heimatidee ausdrückte. Denn das Konzept Heimat entspringt der Zeit der Romantik, des Aufkommens völkischer Gemeinschaftsvorstellungen und war Bestandteil des reaktionären Aufstandes gegen die Moderne, der in der deutschnationalen Bewegung im 19. Jahrhundert seinen Ausdruck fand. Die deutsche Heimatvorstellung entstand parallel zum deutschen Nationalismus, und die dort entwickelten Grundlagen des völkischen Denkens finden sich auch in ihr: Die Verklärung der Natur als mythischer Ort; die Vorstellung, dass Menschen verwurzelt sind; dass die Landschaft, die Sitten, Tradition, Geschichte und Gemeinschaft sie unwiderruflich prägen und ihr Wesen bestimmen; und dass sie dadurch unsterblicher Teil eines naturgegebenen, überzeitlichen und vorpolitischen Kollektivs sind.8 Sachsen übernahm dabei eine Vorreiterrolle: Der erste Dachverband der Heimatschutzbewegung wurde 1904 unter dem Namen „Bund Heimatschutz“ in Dresden gegründet. Die von Beginn an in der Heimatbewegung vorhandenen antisemitischen, rassistischen und antimodernen Elemente9 wurden später in den Nationalsozialismus integriert und mit seinem Konzept der Volksgemeinschaft verbunden.
Der völkische Ursprung der deutschen Heimatidee stellt schon seit jeher den Bezugspunkt für rechte und neofaschistische Bewegungen dar: Die NPD nennt sich „Heimatpartei“, das rechtsterroristische Netzwerk NSU ging aus dem „Thüringer Heimatschutz“ hervor und rassistische Proteste in Cottbus werden von der Gruppe „Zukunft Heimat“ organisiert. Auch bei der im sächsischen Plauen aktiven neonazistischen Partei Der Dritte Weg gehört Heimatverbundenheit und -schutz zu den ideologischen Grundpfeilern. Lange Zeit waren diese Kräfte zusammen mit den Vertriebenenverbänden die einzigen, die Heimat als politisches Projekt begriffen. So wähnte sich noch vor wenigen Jahren die neofaschistische „Identitäre Bewegung“ mit ihrem Leitspruch „Heimatliebe ist kein Verbrechen“ in Opposition zum Mainstream. Heute trifft dieser Satz auf keinen Widerspruch mehr. Es war die „Autoritäre Revolte“,10 die Heimat als politischen Kampfbegriff zurück in den öffentlichen Diskurs gebracht hat. Dass die Heimatdebatte in Deutschland erst mit der jüngsten großen Fluchtbewegung nach Europa im Sommer 2015 so richtig an Fahrt aufnahm, ist dabei kein Zufall. Fragen von Zugehörigkeit und nationaler Identität bekamen durch sie eine neue Aktualität. Da Nation und Leitkultur mittlerweile zu „streitbelastet“ seien, wie es Heimatminister Horst Seehofer ausdrückte, werden diese nun unter dem Schlagwort Heimat verhandelt. Aber ebenso wie bei den Diskursen über Nation, Leitkultur und Integration ging es auch in der Heimatdebatte von Beginn an nicht darum, wie „wir“ zusammenleben wollen, sondern darum, wer hier leben darf und welchen Sitten und Ritualen er oder sie sich dafür unterwerfen muss. So lautete die Fragestellung der Fernseh-Talkshow „Hart aber Fair“ im Februar 2019: „Aber für wen ist hier Heimat: für alle, die hier leben oder nur für die, die von hier stammen?“
6Steinmeier (2017).
7Vgl. Salzborn (2018).
8Ausführlich zur Entstehung der deutschen Heimatkonzeption siehe Blickle (2002) und Applegate (1990).
9Der Gründer des „Bundes Heimatschutz“, Ernst Rudorff, sah die Aufgabe u. a. darin, „deutsches Volkstum ungeschwächt und unverdorben zu erhalten“. Frauen und Juden durften keine Mitglieder werden, vgl. Staud (2015).
10Vgl. Weiß (2017).
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Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“
2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0