Radikale Offenheit: Die Stadt für alle, die da sind
Was heißt Recht auf Stadt?
Es beinhaltet viele Formen von Organisationen, Kämpfen und Themen. Die inhaltlichen Facetten lassen sich auf drei grundlegende Bereiche gruppieren: das Recht auf Zentralität, auf Differenz sowie auf Selbstverwaltung. Unter dem Recht auf Zentralität kann man „den Zugang zu den Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastruktur und des Wissens“13 verstehen, also zum Beispiel Fragen des Wohnens, der Gesundheit, des Verkehrs, der Kunst, der öffentlichen Plätze. Das Recht auf Differenz steht „für eine Stadt als Ort des Zusammentreffens, des Sich-Erkennens und Anerkennens und der Auseinandersetzung“.14 Die dritte Säule ist Selbstverwaltung, also über die eigenen Belange zu verfügen und die Gestaltung der zukünftigen Stadt gemeinsam zu entscheiden. Damit ist „tatsächliche, aktive Mitwirkung“ gemeint und nicht Zustimmung „zum niedrigsten Preis“, die als Teilhabe kurz die politische Passivität unterbricht.15 Die meisten Theorien beziehen sich auf Schriften des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre, werden aber immer wieder aktualisiert und erweitert.16
Das Recht auf Stadt ist allerdings nicht als Idealisierung, sondern als Kritik unserer heutigen Städte zu verstehen:
„Das ‚Recht auf (die) Stadt‘ war bei [Lefebvre] nicht das Recht auf bessere Wohnungen, niedrige Mieten usw. im Kontext der kapitalistischen Stadt (für ihn übrigens eine ‚Nicht-Stadt‘), sondern das Recht auf ein ganz anderes Leben im Rahmen einer gerechten Gesellschaft.“17
Die heutigen Städte seien „Orte der Entfremdung und der Entpolitisierung“.18 Das Recht auf Stadt würde eine andere Gesellschaft und andere Beziehungen bedeuten, „das Recht aller auf den Genuss städtischer Infrastruktur, Kultur und Schönheit, dies alles auf der Basis der autogestion“ (Selbstbestimmung).19
In der neoliberalen Stadt werden zudem mehr und mehr Orte privatisiert und sind nur zugänglich für jene, die konsumieren können.
In der neoliberalen Stadt werden zudem mehr und mehr Orte privatisiert und sind nur zugänglich für jene, die konsumieren können. Bettelverbote etwa verdrängen Arme aus der Sichtbarkeit der Innenstädte.20 Zudem gelten nicht alle gleichermaßen als Stadtbürger:innen, sondern Zugehörigkeit wird weiterhin an Fragen der Nationalität, Herkunft oder Migrationserfahrung festgelegt. Den erwünschten, mehrheitlich weißen Stadtbürger:innen werden „die Anderen“ gegenübergestellt: als Gäste, Bittsteller:innen, Störenfriede oder Kriminelle – diese sind von manchen städtischen Orten ganz ausgeschlossen oder werden durch polizeiliche Maßnahmen diskriminiert. Die Stadt ist von Kolonialismus und Rassismus geprägt.21 Im Neoliberalismus ist das Urbane einem stetigen Verwertungsprozess unterzogen:
„Die Stadt ist zu sehr Beute, als dass die Besitzenden ruhen könnten: Man macht nicht mehr Geschäfte in der Stadt, man macht Geschäfte mit der Stadt […]; auch und gerade den ‚immateriellen‘ Werten der Stadt wird eine Kapitalisierung zuteil. Urbanität soll selbst eine Ware und ein Privileg werden. […] Das Einzige, was in der neoliberalen Stadt ganz und gar keinen Wert hat, ist das Leben ihrer Bewohnerinnen und Bewohner.“22
Doch Städte sind widersprüchliche Orte, die nicht nur durch Ausschluss, sondern auch durch Zusammenschluss geprägt werden:
„Der städtische Raum im postkolonialen Europa ist nicht nur Wohnraum metropolitaner Gesellschaften, die zwischen sich und Anderen unterscheiden; ist nicht nur deutender Repräsentationsraum europäischer Geschichte in nationalen Museen; ist nicht nur inwertsetzende Infrastruktur für global agierende Unternehmen, die als Touristifizierung und Gentrifizierung identifiziert werden können – der städtische Raum im postkolonialen Europa ist vor allem auch ein Raum der Selbstorganisation, der Selbstbestimmung und des Widerstandes gegen institutionelle Diskriminierung, staatliche Gewalt und kapitalistische Ausbeutung, die koloniale Verhältnisse reproduzieren.“23
Das Recht auf Stadt kritisiert die „Antistädte“, beschreibt jedoch auch einen Weg hin zu veränderten, solidarischen Beziehungen: Durch solidarische Praxen und das Knüpfen von neuen Beziehungen24 verändert sich das Verhältnis der Bewohner:innen zueinander und zur Stadt.
13 Gebhardt/Holm (2011): 8.
14 Ebd.
15 Lefebvre (2016): 124.
16 Vgl. ebd.; Aktualisierung und kritische Diskussion bei Mullis (2013), für eine Kritik aus postkolonialer Perspektive siehe Ha (2017), für eine feministische Interpretation siehe Vogelpohl (2018).
17 Lopes de Souza (2010).
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Vgl. gruppe polar (2017).
21 Vgl. Ha (2017).
22 Seeßlen (2020). Er will seinen Text jedoch nicht als Kulturpessimismus verstanden wissen, sondern als einen Aufruf zu widerständigem Handeln.
23 Ha (2017): 82.
24 Vgl. Adamczak (2018a): 265f.
>> Seite 3 | Warum ist das Recht auf Stadt eine Antwort auf den Rechtsruck?
Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“
2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0